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Teil 1 - Hermann Brunner-Schwer erzählt in der "Ich"-Form:

Und er erzählt natürlich die historischen Gegebenheiten aus seiner (SABA-) Sicht und mit seinem Wissen. In die einzelnen Geschichten werden jetzt eine Menge zusätzlicher Informationen aus anderen großen Werken glaubwürdiger Autoren eingebaut.

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Ein Hitlerjunge, Hitler und der Krieg

Gegen Ende der 30er Jahre steuerte die deutsche Rundfunkindustrie auf eine erste Absatzkrise zu. Grund dafür war die Überproduktion. Doch bevor es dazu kam, riß Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaun. Von einem Tag auf den anderen war der Wettbewerb außer Kraft gesetzt. An seine Stelle trat das Diktat der Kriegswirtschaft. SABA wurde, wie die anderen Radiohersteller auch, zum Rüstungsbetrieb und mußte Funkgeräte für die Wehrmacht bauen. Zehn, zum Teil bittere Jahre vergingen, bis man in Villingen wieder an die Produktion von Rundfunkapparaten denken konnte.

1937 - Mit 8 Jahren beim Jungvolk

1937 - Mit acht Jahren wurde ich Mitglied im Jungvolk. Aber nicht freiwillig. Schuld an diesem frühen Dienstantritt war mein Bruder Hansjörg (damals 10 Jahre alt). Als der ältere wäre eigentlich er dazu verpflichtet gewesen. Er weigerte sich aber zunächst und war erst nach langen Überredungskünsten bereit, die Uniform anzuziehen - allerdings nur unter der Bedingung, daß ich es auch tun würde.

Bruderliebe

Mit Bruderliebe hatte Hansjörgs Störrigkeit weniger zu tun als mit seinem damals schon ausgeprägten Eigensinn. Er konnte es einfach nicht ertragen, sich einreihen und unterordnen zu müssen, während sein kleiner Bruder unbehelligt blieb. Hansjörg war ein sehr eigenwilliger, oft jähzorniger Bub. Aber er war der Lieblingsenkel seiner Großmutter und wurde maßlos von ihr verwöhnt. Immer gelang es ihm, die in der Familie dominierende Oma gegen jeden auszuspielen, der seine Unarten zu bändigen versuchte. Die Mutter, das Kinderfräulein, der Hauslehrer, sie alle zogen in der Regel den kürzeren.

Mein Bruder und sein passiver Widerstand

Im Jungvolk tat Hansjörg dasselbe, was er auch in der Schule tat: Er übte passiven Widerstand, wo er nur konnte. Und immer war er sich der schützenden Hand seiner Großmutter sicher. Beschwerte sich Hansjörg über zu strenge Lehrer oder über einen forschen Jungvolkführer, so wurde dieser zum Kaffee in die Schwersche Villa eingeladen. Man fühlte sich geschmeichelt und ließ sich von der alten Dame in ihrer hochherrschaftlichen Umgebung so beeindrucken, daß die Extrawurst für Hansjörg dann kein Problen mehr war. Wenn das alles nichts nutzte, was allerdings selten vorkam, dann flüchtete sich mein Bruder in irgendeine Krankheit, die vom Hausarzt auch prompt attestiert wurde.

Mein Bruder und sein Meisterstück

Sein Meisterstück gelang Hansjörg aber gegen Ende des Krieges, als
sein Jahrgang zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er erschien zwar zur Musterung beim zuständigen Wehrbezirkskommando in Donaueschingen, täuschte aber bei der ärztlichen Untersuchung einen angeblichen Herzfehler so überzeugend vor, daß man ihn als wehruntauglich einstufte und wieder nach Hause schickte.

Wenn man weiß, wie rigoros damals vorgegangen wurde, um die Millionen von Gefallenen an den Fronten wieder zu ersetzen, so war Hansjörgs Erfolg schon von ganz besonderer Art. Auf welche Weise er es allerdings fertiggebracht hatte, die als „KV-Maschinen" („kriegsverwendungsfähig") verschrienen Musterungsärzte hinters Licht zu führen, darüber hat er sich immer ausgeschwiegen. Der Heldentod blieb im jedenfalls erspart.

Mein Bruder und die Schatten der Vergangeheit

Nicht erspart allerdings blieben meinem Bruder die großen Probleme in der Schule, eine direkte Folge seiner Verweigerungstaktik. So schaffte er weder einen höheren Schulabschluß noch eine kaufmännische oder technische Ausbildung. Dieses Manko sollte sich im Rahmen seiner späteren Position als Mitinhaber und technischer Geschäftsführer der SABA-Werke noch als eine große Belastung herausstellen.

Das Ende des sorglosen Kinderlebens

Der Beginn meiner Zeit als (achtjähriger) Pimpf und späterer Hitlerjunge war ein sehr bitterer Einschnitt in mein sorgloses Kinderleben. Hart war der Unterschied zwischen dem Dasein eines verwöhnten Muttersöhnchens und der rauhen Wirklichkeit. Meine Altersgenossen kamen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten. Vor allem die Buben aus der Arbeiterklasse betrachteten meine plötzliche Gleichstellung mit ihnen als willkommene Gelegenheit, dem schwächlichen Millionärsknaben einmal so richtig vors Schienbein zu treten. Dazu gab es im Jungvolk Gelegenheit genug.

Geärgert und gedemütigt

Bei den obligatorischen Boxkämpfen hatte ich immer mit den schlimmsten Schlägern zu tun. Sie verdroschen mich nach Herzenslust. Und die Jungvolkführer, selbst noch halbe Kinder, hatten ihren Spaß daran. Sie ergötzten sich an meinem verschwollenen Gesicht und ließen keine Möglichkeit aus, mich vor den anderen bloßzustellen. Wie oft wurde ich angerempelt, flog über ein gestelltes Bein, trat mir einer in den Hintern. Geh heim, hieß es dann, und laß Dir von Deiner Kinderschwester den Arsch pudern, Du Seckel!

Zu Hause schwieg ich mich darüber aus, obwohl ich schlimm darunter litt und einfach nicht begreifen konnte, warum man ein so böses Spiel mit mir trieb. Ich hatte doch keinem meiner Kameraden irgend etwas zuleide getan. Ich benahm mich nicht wie ein Angeber. Ich war eher schüchtern und still.

Auch hier das Neid-Denken

Erst allmählich begann ich zu begreifen, warum man mich nicht mochte. Es war der Neid auf den Sohn reicher Eltern und auf all die Privilegien, die damit verbunden waren: Die Villen, die großen Autos, das Ferienhaus am Bodensee, die Reisen, das Geld, die Fabrik. Ich mußte lernen, damit zu leben, mit diesem gottverdammten Neid. Er war mein ständiger Begleiter.

Deshalb war es auch nicht weiter verwunderlich, daß es mir schwer fiel, Freunde zu finden. Natürlich gab es einige, die sich anbiederten, die neugierig waren und mitgenommen werden wollten in das große Haus am Park. Es konnte ja nichts schaden, dem SABA-Söhnchen um den Mund zu gehen. Vom Topf der Reichen fällt ja manches ab, früher oder später.

Ein erster wirklicher Freund - Heiner Flaig

Heiner Flaig - er lebt heute als Schriftsteller in Baden-Baden - war da die Ausnahme. Mit ihm drückte ich schon als Erstklässler die Schulbank, wir schafften zusammen das Abitur. Wir erlebten viele Höhen und Tiefen, im privaten und später auch im beruflichen Bereich. Wir bekamen Streit und versöhnten uns, verloren uns aus den Augen und fanden wieder zusammen.

Über Heiner Flaigs Elternhaus

Heiners Vater war Glasermeister, der wie so viele andere Handwerker in der 30er Jahren seine kinderreiche Familie nur mit großer Mühe ernähren konnte. Als ich zum ersten Mal in die Flaigsche Wohnung kam, war es, als wäre ich in einer anderen Welt. Es fiel mir schwer zu begreifen, wie man unter solch ärmlichen Umständen überhaupt leben und glücklich sein konnte.

Das Familmleben spielte sich meistens nur in der Küche ab, keines der Flaigschen Kinder hatte sein eigenes Zimmer. Neue Kleider oder Schuhe bekamen bestenfalls die Ältesten. Die gaben ihre Sachen an die Kleineren weiter. Da gab es keine Köchin, keine Näherin, kein Dienstmädchen, keinen Gärtner, von einem Auto gar nicht erst zu reden. Spielsachen kannten diese Kinder nur vom Blick durch die Schaufenster. Mit einem Tretroller zu fahren oder mit einer elekrischen Eisenbahn zu spielen, davon konnten sie nur träumen.

Und dennoch waren sie zufrieden. Sie trieben sich meistens auf den Gassen herum, kickten auf den Hinterhöfen mit einem alten Tennisball und badeten im Sommer in der Brigach. Sie sammelten Beeren und Pilze im Wald oder spielten stundenlang im Schnee.

Meine Erkenntnis und der Durchbruch

Allmählich begriff ich, daß ich nur dann aus dem Abseits des goldenen Käfigs herauskommen konnte, wenn es mir gelingen würde, den anderen die Stirn zu bieten. Sport schien mir da am geeignetsten. Ich begann wie ein Besessener zu trainieren, allein, ohne daß jemand etwas davon erfuhr. Ich rannte mir die Lunge aus dem Hals, stemmte Gewichte bis zum Umfallen und schlug mir die Fäuste an einem Sandsack wund.

Allmählich konnte ich bei Wettkämpfen mithalten, bei Prügeleien zurückhauen, und als es mir zum ersten Mal sogar gelang, einen Boxkampf gegen einen Stärkeren zu gewinnen, war das Eis gebrochen. Allmählich begann mir der Dienst im Jungvolk Spaß zu machen. Ich war mit Feuereifer bei der Sache, und als ich schließlich zum Jungenschaftsführer befördert und mir die rot-weiße Führerschnur verliehen wurde, kannte mein Stolz keine Grenzen.

Die Familie und ihr "Arrangement" mit dem Führer

Gegen den Nationalsozialismus hatte es in meiner Familie keine Vorbehalte gegeben. Zumindest nicht in der Zeit vor dem Krieg. Man vertraute dem Führer grenzenlos. Niemand dachte auch nur daran, das System und seine Erscheinungsformen ganz oder zumindest teilweise in Frage zu stellen. Über die Judenfrage wurde nie ein Wort verloren. Auch dann nicht, als die Villinger Juden aus der Stadt verschwanden und ihre Geschäfte in „arische" Hände "übergingen".

Späte Erklärungen - traurig und hilflos

Später, als der Krieg vorbei war und das volle Ausmaß der entsetzlichen Tragödie und all der unfaßbaren Scheußlichkeiten offenbar wurde, habe ich immer wieder mit meiner Mutter über die Frage nach dem Wissen oder Nichtwissen diskutiert.

Meine Mutter war eine Persönlichkeit, warmherzig und gemütvoll, hilfsbereit und gerecht. Sie stand mir nahe wie kein anderer Mensch. Ich liebte und verehrte sie über alles. Sie führte ein christliches Leben im wahrsten Sinn des Wortes. Sie übte tägliche Nächstenliebe und gab dem Guten stets die bessere Chance als dem Bösen.

Sie versuchte mir zu erklären, weshalb Hitler sie so stark beeindruckt hatte, welche großen Hoffnungen mit diesem Mann verbunden waren und wie sehr man sich damals von den wirtschaftlichen und sozialen Erfolgen des Systems "begeistern" ließ. (Anmerkung : Hier hätte das Verb "blenden" besser gepaßt.)

Meine Mutter glaubte an Hitler als eine Art Erretter, als einen vaterländischen Helden. Niemals zweifelte sie an seiner Integrität. Ihre Überzeugung ging soweit, daß sie in die Partei eintrat. Um einen aktiven Beitrag zu leisten, tat sie Dienst in der NS-Frauenschaft, einer unter den Fittichen der NSDAP zusammengefaßten Frauenbewegung, die sich die Pflege der Familie und die Heranbildung tüchtiger Hausfrauen und Mütter zur Aufgabe gemacht hatte.

Auch die Wahrheit wäre kein Ausweg

Natürlich war ihr bekannt, daß man Systemgegner wie Verbrecher behandelte und ins Gefängnis warf. Das mußte wohl so sein. Es bedrückte sie, wie man mit den Juden umging. Daß man anfing, sie totzuschlagen oder ins Konzentrationslager zu werfen, das wußte sie allerdings nicht. Hätte sie es herausfinden können? Ich glaube ja. Aber schon der Gedanke an verbrecherische Machenschaften Hitlers kam ihr erst gar nicht in den Sinn.

Anmerkung von Gert Redlich : Meine Mutter (geb. Okt. 1919) erzählte mir, daß sie in der Hauptstadt Berlin sehr wohl mitbekommen hatte, daß ihre Schulfreundinnen, Jüdinnen, so nach und nach kommentarlos "verschwanden" und nie wieder geschrieben haben; oder manchmal nur ein letztes Mal, sie würden umgesiedelt. Als meine Mutter - sie war damals 18 - anfangen wollte, dem nachzugehen, wurde sie von ihrer Mutter und ihrem Vater, unserer Oma und dem Opa, abrupt ausgebremst. Das geht uns nichts an, das machen "die" da oben schon richtig. Kümmere Du dich um Deine Sachen und Deine Schule. Außerdem ist es sehr gefährlich, so neugierig zu sein. Also soweit hatte man 1938 schon erfahren, daß da irgend etwas NICHT mit rechten Dingen zuging. Und die Schul- und Klassen- Kameradinnen kamen nie wieder.

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Unsere Mutter - geachtet und verehrt

In unserem Haus verkehrte damals viel Parteiprominenz. Ich erinnere mich an zackige Herren in Uniform. Sie sprachen meine Mutter mit „gnädige Frau" an und begrüßten sie nach preußischer Offiziersart, mit zusammengeschlagenen Hacken und Handkuß.

Unserer späterer Stiefvater - Ernst Scherb

Mit einem von ihnen freundete sich meine Mutter an. Ernst Scherb, Oberstaffelführer der NSKK („Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps"). Er kam mir vor wie ein Ritter ohne Furcht und Tadel und hat mir sehr imponiert. Seine Karriere entsprach der vieler junger Männer in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Eine entbehrungsreiche Jugend, arbeitslos, keine berufliche Perspektive und für nationalistische Ideale aufnahmefähig wie ein trockener Schwamm. Schon vor der Machtübernahme durch Hitler wurde er Parteigenosse. Ein Umstand, der ihm viele Türen öffnen sollte. Dem schnellen Aufstieg in der Partei folgte schon bald die Beschäftigung bei einer Versicherungsgesellschaft. Als man ihm eine regionale Anstellung im südlichen Schwarzwald übertrug, siedelte er nach Villingen über und wurde dort zum Chef des örtlichen NSKK ernannt.

Ernst Scherb - Erstaunlich gegensätzliche Eigenschaften

Trotz seines hohen Ranges stieß er mehrfach mit den Parteibonzen der Region zusammen. Ernst Scherb war im Grunde seines Herzens ein aufrechter Mann. Er konnte weder Unrecht noch Opportunismus ertragen. Das scheint für einen nationalsozialistischen Aktiven zwar paradox, trotzdem war es so. Allerdings, dieser Sinn und das Einstehen für Gerechtigkeit beschränkte sich auf seine Umgebung, also auf das, was in seinem Einflußbereich geschah. Da stand er für seine Meinung ein und brachte auch Mut genug auf, zu widersprechen. Daran änderten auch mehrere Tage Haft nichts, in denen man versuchte, ihn weichzukochen. Seine Einstellung zu Hitler und der nationalsozialistischen Idee allerdings blieb von den Friktionen mit der lokalen Parteiorganisation unberührt. Für Führer, Volk und Vaterland wäre er durchs Feuer gegangen, und das hat er später ja auch getan.

Oma Johanna Schwer und ihre Tochter Margarethe

Johanna Schwer sah die Verbindung ihrer Tochter mit Ernst Scherb nicht besonders gern. Zum einen witterte sie die Annäherung eines weiteren Mitgiftjägers, zum anderen mochte sie die Nazis nicht besonders gerne. Meine Großmutter war ein unpolitischer Mensch. Sie lebte in einer Welt, die längst vergangen war. Für sie galten noch immer die von Monarchie und Adel gesetzten Maßstäbe für Benehmen, Umgangsformen und gesellschaftliche Akzeptanz. Die Nazis betrachtete sie als Emporkömmlinge, ungebildet und mit schlechten Manieren. Doch diese hatten Respekt vor der alten Dame. Sie machten ihr selbst dann noch den Hof, als sie den Eintritt in die Partei kategorisch ablehnte.
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Kein "NSDAP-Deal" mit unserer Oma

Einmal allerdings wäre es den Parteioberen beinahe gelungen, Johanna Schwer trotz ihrer politischen Abstinenz vor den Parteikarren zu spannen. Sie dachte daran, der Stadt Villingen ein modernes Kinderheim zu stiften. Sobald die Parteileitung von diesen Plänen erfuhr, setzte man alle Hebel in Bewegung, um meine Großmutter zu veranlassen, diese Stiftung nicht der Gemeinde, sondern der NSDAP zukommen zu lassen. Ausgerechnet der Oberstaffelführer Scherb war es dann, der sie geradezu beschwor, sich auf gar keinen Fall den Wünschen der Partei zu beugen. Sein Argument war stichhaltig: Einmal in den Händen der Partei, wäre das Kinderheim dem Allgemeinwohl entzogen und zu einem Instrument der nationalsozialistischen Erziehung umfunktioniert worden. Meine Großmutter folgte seinem Rat. Sie stiftete das neue und großzügig eingerichtete Kinderheim der Stadt Villingen, die sich bei der Wohltäterin mit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde bedankte.

Johanna Schwer und das Phänomen Hitler

Obwohl Johanna Schwer den braunen Machthabern nicht gerade freundlich gesinnt war, das Phänomen Hitler hat auch sie fasziniert. Nur so kann ich mir die Reise nach Berchtesgaden erklären.

Es geschah im Sommer 1937. Hitler hielt sich in seinem eigens für ihn erbauten „Berghof" auf, einem feudalen, auf dem Obersalzberg gelegenen Anwesen. Täglich gab er sich zu einer bestimmten Stunde die Ehre, und Tausende warteten darauf. Sobald er sich auf einen kleinen Hügel begeben hatte und eine Kette von SS-Männern um ihn herum postiert waren, begann die Prozession seiner Verehrer. Aus allen Teilen des Reiches waren sie angereist, um einmal in ihrem Leben den Führer aus der Nähe zu sehen.

Oma Schwer war geschickt und willensstark

Wir wohnten in einem nahegelegenen Hotel, machten Ausflüge oder besuchten eines der Salzbergwerke, während Johanna Schwer die Fäden spann. Sie wollte, daß ihr Neffe Rolf, mein Bruder und ich Hitler die Hand geben und ihm Geschenke überreichen durften.

Das war allerdings nicht so einfach zu bewerkstelligen. Doch was sich meine Großmutter einmal vorgenommen hatte, das setzte sie durch. Und wenn es sein mußte, auch mit Hilfe ihres immer gefüllten Portemonnaies. Eines Tages war es soweit. Zu dritt, uniformiert und mit vor Aufregung schlotternden Knien, wurden wir auf einen reservierten Platz gebracht, nicht weit weg von Hitlers Feldherrnhügel.

Ein unmögliches Schauspiel - die Besucher beim "Führer"

Wir beobachteten ein unmögliches Schauspiel. Auf einem breiten, von Angehörigen der SS-Leibstandarte umsäumten Weg, wälzte sich ein nicht enden wollender Strom von Menschen in einem Abstand von etwa 20 Metern an Hitler vorbei. Viele gerieten beim Anblick ihres Führers in eine "regelrechte Verzückung" - heute nennt man das "Extase".

Frauen und Mädchen bekamen Weinkrämpfe, nicht wenige waren der Ohnmacht nahe. Alle erhoben und reckten sie den rechten Arm und überschrien sich mit „Heil"-Rufen. Und immer wieder Gruppen fanatisierter Österreicher. Sie riefen Hitler zu: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer - Führer hol uns heim."

Hitler - keine Rede von einem germanischen Herrenmenschen

Hitler stand fast bewegungslos da. Er trug einen grauen Anzug mit Schlapphut und wirkte wie ein unscheinbarer Zivilist. Er war ziemlich klein und machte einen gebückten Eindruck. Keine Rede von einem germanischen Herrenmenschen, so wie ihn die Nazi-Propaganda stets darzustellen versuchte. Ab und zu erhob er die rechte Hand zum Hitlergruß, doch es schien so, als würde er die Ovationen völlig teilnahmslos über sich ergehen lassen. Sobald sich jemand aus der vorbeiziehenden Kolonne lösen und auf Hitler zugehen wollte, griffen die Männer der SS-Leibstandarte ein. Großgewachsene, ausgesuchte Elite-Wärter, die das Geschehen mit steinernem Gesichtsausdruck, aber mit Argusaugen verfolgten.

Fast eine Stunde dauerte der "Spuk".

Plötzlich, nach knapp einer Stunde, war der Spuk vorbei. Obwohl noch längst nicht alle der angereisten Besucher Hitler zu Gesicht bekommen hatten, wurde der Zugang abgesperrt und die Wartenden auf den nächsten Tag vertröstet.

Dann kamen wir Buben dran ....

Noch aber verließ Hitler den Schauplatz nicht. Er blickte zu uns herüber und winkte. Das war das Zeichen für einen neben uns stehenden SS-Mann. Er bedeutete uns, ihm zu folgen. Dann standen wir vor Adolf Hitler. Alles was wir herausbrachten, war ein eher zittriges „Heil Hitler". Anschließend verschlug es uns vor lauter Respekt die Sprache. Hitler schien davon nicht überrascht zu sein. Er lachte, nahm mich als den Kleinsten an die Hand und ging zu einer Bank, auf der wir uns niedersetzten.

Es war eigenartig, meine Scheu war mit einem Mal wie verflogen. Ich begann zu erzählen, woher wir kamen, vom Elternhaus und der Fabrik und daß uns unsere Oma Geschenke für ihn mitgegeben habe. Es war mir so, als säße ich neben einem zutraulichen Onkel, der mein kindliches Geplapper mit geduldiger Freundlichkeit über sich ergehen ließ.

Auch später gab es keine Antworten auf die Frage nach dem Phänomen Hitler

In den vergangenen Jahrzehnten wurden viele Versuche unternommen, das Phänomen Hitler zu erklären. Man suchte nach Antworten auf die Frage, wie um alles in der Welt es möglich war, ein ganzes Volk in den Bann eines solchen Mannes zu ziehen. Eines Mannes, der von seiner Herkunft her ein Niemand war, ein verkrachter Möchtegernkünstler, ein am Hungertuch nagender Einzelgänger.

Keine strahlende Erscheinung, geschweige denn ein intellektuelles Genie. Er war auch kein gefeierter Kriegsheld wie ein Ludendorff oder Udet. Er brachte es gerade bis zum Gefreiten. Einer von Hunderttausenden, die nach dem Ersten Weltkrieg erst gar nicht in die Versenkung verschwinden mußten, weil sie keiner kannte. Ich will mich nicht in die Reihen der vielen Hitlerexperten einreihen, nur weil ich ihm begegnet bin.

Ich möchte nur eine Schlußfolgerung als Ergebnis eigener Erkenntnisse ziehen: Wer immer dieser Hitler auch gewesen sein mag, ich finde zu ihm in der Menschheitsgeschichte so gut wie keine Parallele. Verhängnisvolle Umstände bereiteten ihm den Weg zur Macht, das Diktat von Versailles, der verletzte Stolz eines sich gedemütigt fühlenden Volkes, Armut und Arbeitslosigkeit, die Schwächen der Demokratie Weimarer Prägung, die Orientierungslosigkeit der Deutschen nach dem Zusammenbruch der Monarchie.

  • Mehr über den damaligen Zeitgeist finden Sie in dem Buch "Von Bismarck zu Hitler" von Sebastian Haffner (1988).
  • Ebenso finden Sie eine Menge Informationen über obiges Thema in dem deutschen Vorwort zu "Perl Harbor" von Morgenstern (1941 und 1990)

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"Zur richtigen Zeit an der richtige Stelle"

Hitler hätte trotz seiner massenhypnotischen Fähigkeiten ohne diese unseligen Voraussetzungen nie und nimmer seine Ziele erreichen können. Doch so schlecht damals die Sterne für Deutschland standen, für ihn standen sie um so besser. Sein Auftritt auf der politischen Bühne löste eine bereits überhängende Lawine aus, und er verstand es vorzüglich, die in Bewegung geratene Masse dank seines organisatorischen Talents, seiner primitiven, aber eingänglichen Thesen und einer mitreißenden Rhetorik in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.

Er verstand es hervorragend, sich immer dann als Wolf im Schafspelz darzustellen, wenn er sich davon eine Wirkung versprach. Kindern und Jugendlichen gegenüber gab er sich stets von seiner liebenswürdigsten Seite. Er erweckte in ihnen Zuneigung und Vertrauen. Damals auf dem Obersalzberg habe ich nicht anders empfunden.

Eine weitere erstaunliche Begebenheit mit uns Buben

Hitler muß über ein außergewöhnliches Personengedächtnis verfügt haben. Anders kann ich mir eine Begebenheit nicht erklären, die sich zwei Jahre nach der Begegnung auf dem Obersalzberg zugetragen hatte. In Stuttgart fand eine jener Großkundgebungen statt, die Hitler mit Vorliebe als Kulisse für seine langatmigen Ansprachen benutzte. Aus allen Teilen der Provinz war man angereist, und so entschloß sich auch meine Mutter, mit ihren beiden Söhnen dem Ereignis beizuwohnen.

Hitler residierte im am Stuttgarter Schloßplatz gelegenen Nobelhotel Marquardt. Schon viele Stunden vor seinem angekündigten Auftritt wartete eine unübersehbare Menschenmenge auf das Erscheinen ihres Idols. Ein Heer von Ordnungshütern überwachte das generalstabsmäßig organisierte Schauspiel. Uniformen und Fahnen, soweit das Auge reichte. Aus riesigen Lautsprechern schmetterte Marschmusik am laufenden Band.

Wie Oma den Promi-Bonzen um den Finger wickelte

Dank guter Beziehungen ließ man uns in das Restaurant des Hotels, das mit Parteiprominenz überfüllt war. Als ein paar Plätze frei wurden, setzten wir uns an einen Tisch, an dem ein hoher Funktionär vor einer Hasche Champagner thronte. Er benahm sich sehr leutselig und verwickelte meine Mutter in ein Gespräch. Sie erzählte ihm von unserem Besuch auf dem Berghof, was den erhofften Eindruck nicht verfehlte.

Sofort begann der Bonze zu prahlen, wie gut er Hitler kenne, wie lange er sich schon zu seinen Getreuen zählen dürfe und wieviele Schlachten er schon für den Führer geschlagen habe. Schließlich bot er meiner Mutter eine Wette an. Er behauptete, daß Hitler meinen Bruder und mich sofort wiedererkennen würde, und zwar ohne jeglichen Hinweis von dritter Seite. Als sie erklärte, daß sie das nicht glaube, stand der Mann auf und bedeutete uns beiden, ihm zu folgen. Er bugsierte uns an strammstehenden SS-Wachen vorbei und plazierte uns endlich vor der Tür des Appartements, in dem Hitler wohnte. Dort ließ er uns stehen.

Hitler deht sich zu uns um und begann zu lächeln

Beklommen standen wir auf dem Hotelflur, der einem Bienenhaus glich. Wir kamen uns vor wie bestellt und nicht abgeholt. Deutlich hörten wir Hitlers laute Stimme durch die geschlossene Türe hindurch. Offensichtlich diktierte er das Konzept für seine Rede. Plötzlich, nach einer kleinen Ewigkeit, wurde die Zimmertür aufgerissen, und Hitler kam heraus. Er schien es eilig zu haben. Ein Adjudant wies ihm den Weg zum Lift. Nach ein paar Metern stockte Hitler und mit ihm die ganze Kavalkade seiner Begleitung. Er drehte sich um und sah uns an. Mit erhobenem rechten Arm standen wir stramm.

Hitler begann zu lächeln und trat auf uns zu. Noch ehe ich meinen ersten Satz zu Ende sprechen konnte, unterbrach er mich und sagte, ich sei wohl noch immer der Sprecher der Familie wie damals auf dem Obersalzberg. Er freue sich, die beiden Buben aus dem Schwarzwald wiederzusehen, und fragte uns, ob wir die Fotos zugeschickt bekommen hätten, die sein Hoffotograf Hoffmann von ihm und von uns aufgenommen hatte und die er mit seinem Autogramm versehen habe. Dann gab er uns die Hand und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Nur mit Mühe fanden wir den Weg zurück an den Tisch. Dort saß noch immer jener Parteimensch mit meiner Mutter. Sie hatte die Wette verloren.

Später gab es Krach zwischen Oma und unserer Mutter

In meiner Familie gärte es damals heftig. Großmutter Schwer versuchte zwar noch immer, eine Ehe zwischen ihrer Tochter und Ernst Scherb zu verhindern. Doch meine bis dahin so folgsame Mutter ging plötzlich auf die Barrikaden. Als es immer offensichtlicher wurde, daß die Hochzeit notfalls auch ohne den Segen der allgewaltigen SABA-Inhaberin stattfinden würde, gab diese ihren Widerstand auf und willigte zähneknirschend ein. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb dachte Johanna Schwer nicht einen Augenblick daran, ihre testamentarischen Verfügungen der neuen Situation anzupassen. Das aber hieß, daß der neue Schwiegersohn jetzt und in Zukunft von jeglicher Mitwirkung im Unternehmen ausgeschlossen blieb.

Ein gangbarer Kompromiß mußte her

Andererseits war meine Großmutter eine zu kluge Frau, um sich nicht der Gefahren einer Erniedrigung meines neuen Stiefvaters bewußt zu sein, die er wie meine Mutter auf die Dauer nicht hingenommen hätten. Sie beauftragte ihre Berater mit der Suche nach einem gangbaren Kompromiß. Zum einen sollte an ihrer Grundsatzentscheidung nicht gerüttelt werden müssen. Zum anderen aber sollte das Gesicht des Schwiegersohnes gewahrt bleiben. Diese Aufgabe schien so unmöglich zu sein wie die Quadratur des Kreises. Und doch, man fand eine Lösung.

Der Zeitgeist und die Moral - zwei tückische Begriffe

Im Zug der sogenannten „Arisierung" ließ Hitler damals Juden, die Unternehmen besaßen, enteignen. Diese Unternehmen fielen entweder unter staatliche Verwaltung oder wurden nichtjüdischen Interessenten zum Kauf angeboten. Die dafür erforderlichen Maßnahmen wurden von einer eigens geschaffenen Reichsstelle von Berlin aus veranlaßt und kontrolliert. Innerhalb kürzester Zeit kam eine Vielzahl von zumeist hochkarätigen Betrieben auf den Markt. Deutsche konnten sie zu Bedingungen erwerben, die von den ursprünglichen Besitzern unter normalen Umständen nie und nimmer akzeptiert worden wären.

Oma Schwer entschied und kaufte eine Berliner Firma

Unter den von der „Arisierungsbehörde" angebotenen Unternehmen befand sich auch eine Firma in Berlin, Jaroslaw & Söhne. Sie hatte einer jüdischen Familie namens Schröder gehört. Das Unternehmen produzierte in mehreren Fabriken Starkstromkondensatoren, Lackdrähte, isolierte Leitungen und Kunststoffe. Rohglimmer wurde importiert, der in komplizierten Arbeitsgängen in feine Scheiben und Formen geschnitten und von den Herstellern von Rundfunkröhren und Glühlampen in großen Mengen benötigt wurde.

Jaroslaw & Söhne besaß einen ausgezeichneten Ruf und zählte zu den führenden Anbietern der Branche. Das Unternehmen beschäftigte weit über tausend Mitarbeiter. Es schrieb immer schwarze Zahlen und war finanziell kerngesund.

Johanna Schwer zögerte nicht lange. Sie beauftragte ihren Treuhänder mit der Verhandlungsführung. Sie machte einen Kaufabschluß allerdings von der Bedingung abhängig, daß der Familie Schröder sowohl die Auswanderung in die USA als auch die Überweisung des Kaufpreises auf ein Konto im Ausland behördlicherseits genehmigt würde. Die Höhe des Übernahmepreises bewegte sich in der Größenordnung von 200.000 Pfund-Sterling, was nach dem damaligen Umrechnungskurs einem Gegenwert von 40 Millionen Reichsmark entsprach. Ob dieser Preis dem tatsächlichen Verkehrswert gleichkam, weiß ich nicht. Es hat aber den Anschein, als ob es sich zumindest um den damaligen Substanzwert dieser Firma gehandelt haben muß.

Gegen alle Widerstände - zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen

So problematisch es auch war, die Auflagen meiner Großmutter durchzusetzen, dank guter Beziehungen und der Fürsprache eines Parteioberen, der mit Ernst Scherb bekannt war, wurde die in diesen Fällen eigentlich höchst seltene Sondergenehmigung erteilt. Die Familie Schröder entkam dem Holocaust und konnte ihr schon verloren geglaubtes Vermögen zumindest teilweise retten.

Nach der Übernahme firmierte man um. Der Name Jaroslaw verschwand. Stattdessen hieß die Firma "Scherb & Schwer KG". Ernst Scherb beteiligte sich mit einer kleinen Einlage als Komplementär und übernahm die Geschäftsführung.

Damit hatte Johanna Schwer mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Sie besaß als Kommanditistin die absolute Mehrheit an der Berliner Gesellschaft, die Haftung blieb jedoch auf ihre Einlage beschränkt. Ihr neuer Schwiegersohn erhielt eine standesgemäße Position und war außerdem gezwungen, sich vor Ort, also weit weg vom Schwarzwald, um seine neue Aufgabe zu kümmern. Darüberhinaus konnte SABA Produkte der neu erworbenen Firma zu bevorzugten Preisen beziehen und kam dadurch in den Genuß kalkulatorischer Vorteile.

Blieb die Moral wirklich auf der Strecke ?

Ich konnte nie herausbekommen, ob man sich in meiner Familie damals die Frage nach der moralischen Berechtigung dieser Firmenübernahme gestellt hat. Obwohl den jüdischen Besitzern ein schlimmes Schicksal erspart werden konnte - es blieben dennoch Vorbehalte. War es wirklich notwendig, ausgerechnet diesen Weg zu gehen, nur um ein familiäres Problem aus der Welt zu schaffen? Oder hat man sich damit nicht doch vor den Karren eines judenfeindlichen Regimes spannen lassen, mit Hand angelegt an der Vertreibung der Juden aus Deutschland und sich an jüdischem Besitz bereichert?

Nach Kriegsende rechtfertigten die an dieser Aktion direkt beteiligten Familienmitglieder und Berater ihre Handlungsweise mit den von Hitler geschaffenen Fakten. Sie benutzten die der Familie Schröder ermöglichte Auswanderung als eine Art Alibi, das für einen anderen, rücksichtsloseren Käufer gar kein Thema gewesen wäre. Diskussionen dieser Art endeten im übrigen immer mit dem Vorwurf, Zusammenhänge und Zwänge zu verurteilen, die man als Kind damals gar nicht begreifen und deshalb auch nicht mit dem erforderlichen Verständnis hätte ermessen können. Im Nachhinein aber den Richter spielen zu wollen, steht mir nicht zu.

Am Ende (April 1945) hat alles nichts geholfen - es war weg

Wie auch immer diese Ereignisse beurteilt werden mögen, der Krieg und sein Ausgang regulierte vieles auf seine Weise. Die zum größten Teil im Osten Berlins gelegenen Fabrikanlagen von "Scherb & Schwer KG" wurden das Opfer von Luftangriffen. Nach dem Einmarsch der sowjetrussischen Truppen erklärten die neuen Machthaber das Unternehmen für enteignet und überführten es als „Volkseigenen Betrieb" in den Besitz des Arbeiter- und Bauernstaates. Meine Familie mußte die Berliner Investitionen bis auf den letzten Pfennig abschreiben.

1. Spet. 1939 - Hitler verkündet den Krieg

All das ereignete sich vor dem Hintergrund der immer bedrohlicher werdenden Kriegsgefahr. Und wie es schließlich zum Schlimmsten kam, ist hinlänglich bekannt. Ich erinnere mich noch gut an den 1. September 1939, als Hitler mit sich überschlagender Stimme über alle Rundfunksender verkündete, daß seit 4.45 Uhr zurückgeschossen würde. Die ganze Familie hatte sich um den Radioapparat versammelt, und nie werde ich das bestürzte Gesicht meiner Mutter vergessen. Direkte Folge für SABA: Das Unternehmen durfte keine Radioapparate mehr produzieren, stattdessen hatte man die Fertigungsanlagen schnellstmöglich umzustellen und mit dem Bau von Feldtelefonen und Funkgeräten zu beginnen.

Stiefvater Scherb war ein richtiger Deutscher

Mein Stiefvater konnte es nicht erwarten, Soldat zu werden. Es wäre für ihn ein leichtes gewesen, sich als Geschäftsführer der Berliner Firma freistellen zu lassen. Doch auch nur in den Geruch eines Drückebergers zu kommen, war ihm in der Seele zuwider. Er meldete sich freiwillig und kam als einfacher Soldat zu den Panzerjägern.

In einer Villinger Kaserne absolvierte der damals 35jährige die Grundausbildung. Ich beobachtete ihn oft durch den Drahtzaun des Kasernenhofes. Er wurde wie jeder andere unbarmherzig gedrillt und geschliffen. Sein Rang in der Partei schien auf die Ausbilder nicht den geringsten Eindruck zu machen. Im Gegenteil, sie wollten dem Herrn Oberstaffelführer einmal so richtig den Arsch aufreißen.

Doch Ernst Scherb, ein Vorbild von Disziplin und Einsatzbereitschaft, ließ sich nichts anmerken. Schon bald wurde man auf diesen Mustersoldaten aufmerksam. Eine Beförderung folgte auf die andere, er kam auf die Kriegsschule und avancierte zum Offizier. Bis dahin hatte er noch keine Fronterfahrung, doch das sollte sich bald und gründlich ändern.

Er "jagte" sogar bis kurz vor Moskau

Die Villinger Panzerjäger und mit ihnen mein Stiefvater gehörten zu den Kampftruppen, die 1941 bis in die Nähe Moskaus vorgerückt waren. Sie erlebten den erbarmungslosen russischen Winter genauso wie die Wucht des sowjetischen Gegenangriffs. Viele von ihnen verloren ihr Leben oder galten als vermißt. Ernst Scherb blieb trotz einer Verwundung bei seiner Einheit, wurde dann aber mit schweren Lähmungserscheinungen in ein Würzburger Lazarett eingeliefert. Als er nach Monaten endlich wiederhergestellt war, kommandierte man ihn zur grenzenlosen Erleichterung meiner Mutter nach Frankreich.

Wir Buben und die „Heimatfront"

Wir Buben zuhause übten den Einsatz an der sogenannten „Heimatfront". Neben dem normalen Dienst in der Hitlerjugend mußten wir auch ungewohnte Aufgaben übernehmen. Mit Sammelbüchsen und Einwohnerlisten in der Hand gingen wir von Haus zu Haus, um Geldspenden für Hilfswerke zu kassieren. Wir schleppten Altpapier und Altmetall zur Entlastung der „Rohstoffront", mußten zur Erntehilfe auf das Land oder machten Jagd auf den Kartoffelkäfer. Man zeigte uns den Gebrauch der Volksgasmaske, wie eine Brandbombe fachmännisch zu löschen ist und wie man Verletzten Erste Hilfe leisten kann. Und immer marschierten wir auf, wenn es irgend ein Parteibonze wieder einmal für nötig hielt, eine Kundgebung abzuhalten und flammende Worte an das Volk zu richten. Dann standen wir uns in Reih und Glied die Füße in den Bauch und langweilten uns zu Tode.

Neid, Ehrfurcht und Bestaunen der Orden

Mit Vorliebe präsentierte man uns Fronturlauber. Sie erzählten von ihren Kriegserlebnissen, von den Einsätzen, für die sie mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden waren. Mit Neid und Ehrfurcht bestaunten wir ihre ordensgeschmückten Uniformen. Viele von uns konnten es dann gar nicht erwarten, auch so ein Held zu werden. Es kam das Jahresende und die dritte Kriegs-Weihnacht.

Die Hoffnung auf das Kriegsende schwand mehr und mehr

Die Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges waren inzwischen verflogen. Es gab kaum jemand, dem noch zum Feiern zumute war. Viele Familien trauerten bereits um ihre gefallenen Angehörigen oder bangten um ihre Väter und Söhne, die an der Front waren. Die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs wurde weiter knapp. Wer sich noch einen Gänsebraten auf dem Weihnachtstisch leisten konnte, mußte schon über besonders gute Beziehungen zur Landwirtschaft verfügen. So wie meine Großmutter.

Mit der Oma auf frühen Hamsterfahrten ....

Als sie mit gebührender Empörung feststellte, daß der gewohnte Küchenzettel immer größere Lücken aufzuweisen begann, erinnerte sie sich an ihre bäuerliche Verwandtschaft im Schwarzwälder Wiesenbach. Sie setzte sich mit ihnen in Verbindung, und schnell war eine Art Kompensationshandel in Gang gesetzt. Weil aber die Kaufkraft der Reichsmark unter dem allgemeinen Warenmangel litt und deshalb immer schwindsüchtiger wurde, mußten andere Zahlungsmittel herhalten. Für die Bauern begannen plötzlich bessere Zeiten, denn jetzt kamen die Städter auf das Land. Sie boten Sachwerte, die für einen bäuerlichen Geldbeutel bis dahin unerschwinglich waren, die man aber jetzt plötzlich mit Eiern, Vollmilch, Mehl und Butter bezahlen konnte.
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.... nicht mit dem großen Horch, mit dem kleineren Mercedes

Johanna Schwer ließ sich immer häufiger in das abgelegene Schwarzwaldtal fahren. Aber nicht in der großen Horch-Limousine. Dieses benzinfressende Prachtexemplar hatte sich für irgendeinen militarisehen Einsatz als ungeeignet erwiesen und war so der Requisition entgangen. Jetzt stand es aufgebockt in der Garage und wartete auf friedlichere Zeiten. Statt der Luxuskarosse gab es einen kleineren Mercedes, auf den Nummernschildern der „Rote Winkel". Ein Kennzeichen, das die Benutzung der noch wenigen nichtbeschlagnahmten Personenwagen für ausschließlich dienstliche Zwecke erlaubte. Daß ihre Ausfahrten in den wenigsten Fällen dienstlicher Natur waren, scherte meine Großmutter wenig. Wurde sie unterwegs angehalten und gefragt, so hatte sie immer eine Ausrede parat. Und Benzin war eigentlich immer vorhanden. SABA verfügte über eine eigene Tankstelle, und niemand wagte es, der Firmenchefin die Nutzung dieser Einrichtung zu verbieten.

Für uns Enkel waren die Hamsterfahrten der Großmutter immer eine Attraktion. Sie nahm uns mit, so oft es ging, und dann schlugen wir uns regelmäßig die Bäuche voll. Wir genossen Schwarzwälder Spepk, geräucherte Bratwürste, frische Butter, ausgebackenes Bauernbrot und Milch so überreichlich, daß es uns bei der Heimfahrt auf den kurvenreichen Bergstraßen oft speiübel wurde.

1942 - Ein Lager für Kriegsgefangene

Die bis dahin immer noch friedliche Idylle meiner Villinger Heimat erhielt mit der Errichtung eines Lagers für Kriegsgefangene einen empfindlichen Dämpfer. Unser Anwesen lag neben einer weitläufigen Kasernenanlage, doch eine große Wiese dazwischen hatte bis dahin die Distanz erträglich gemacht. Doch plötzlich, quasi über Nacht, erschienen Arbeitskommandos der Wehrmacht. Sie bepflasterten die Wiese mit Baracken, zogen Stacheldrahtzäune und errichteten hölzerne Wachtürme. Wenig später trafen die ersten Kriegsgefangenen ein. Bald waren an die zweitausend Mann in diesem als „Stalag VB" („Kriegsgefangenen Mannschaftsstammlager") bezeichneten Lager eingesperrt.

Nur französiche, polnische und russische Soldaten

Unsere neue Nachbarschaft bestand aus französichen, polnischen und russischen Soldaten, die dort noch auf Jahre hinaus ihr Leben unter primitiven Umständen und in qualvoller Enge fristen sollten. Oft stand ich am Zaun und beobachtete sie, wie sie so herumstanden, in ihren Gesichtern die Resignation der Geschlagenen. Manchmal, wenn es die Wachen erlaubten, zündeten die Russen am Abend ein Lagerfeuer an. Dann saßen sie in ihren abgerissenen Uniformen und mit kahlgeschorenen Köpfen am Feuer herum und sangen Lieder aus ihrer Heimat. Ich verstand ihre Sprache nicht, doch die Melodie der Gesänge berührte mich. Es war, als ob die ganze Wehmut über ihr Schicksal aus ihnen herausbrach.

Der Winter 1942 mit bis zu -40 Grad

1942 - Dieser Winter wurde sehr lang und sehr kalt. Im Schwarzwald verzeichnete man in den ersten Monaten des Jahres 1943 nicht selten Minusgrade zwischen 30 und 40. Gewaltige Schneemassen fielen vom Himmel. Ganze Dörfer waren für Wochen von der Außenwelt abgeschnitten. Nur mit größter Mühe und dem massiven Einsatz Tausender von Kriegsgefangenen konnten die wichtigsten Straßen- und Schienenverbindungen offengehalten werden. Trotzdem kam es zu empfindlichen Engpässen in der Versorgung, zu Produktionseinbrüchen in der Industrie und zu akutem Mangel an Heizmaterial. Viele Menschen hausten vermummt wie die Eskimos in ihren eiskalten Wohnungen. Ich selbst erfror mir auf dem Schulweg Nase und Ohren.

Selten wurde ein Frühling sehnsüchtiger erwartet wie damals. Es war der Frühling eines Jahres, für das Hitler die Entscheidungsschlacht im Osten und damit den endgültigen Sieg voraussagte.

Man konnte den schweizerischen Sender Beromünster hören

Ausländische Zeitungen gab es nicht, und wer ausländische Sender abhörte, riskierte Kopf und Kragen. Ich habe es trotzdem manchmal getan. Nicht etwa, weil ich an der Wahrheitsliebe des Führers zu zweifeln begann, es war die reine Neugierde. Befand sich gerade niemand in der Nähe, schlich ich mich an das Radiogerät und stellte den schweizerischen Sender Beromünster ein. Die Schweizer, peinlichst auf die Wahrung ihrer Neutralität bedacht, strahlten die Nachrichten über die Kriegslage wortgetreu in den Versionen der kriegsführenden Länder aus. Es blieb dem Zuhörer überlassen, welcher Version er Glauben schenken wollte. Über alliierte Kriegsmeldungen machte ich mich höchstens lustig. Daß die Feinde Deutschlands logen, wurde uns ja tagtäglich eingeimpft.

Einmal vergaß ich dummerweise, das Radio beim Abschalten wieder auf einen deutschen Sender zurückzustellen. „Tu das nie wieder", meinte meine Mutter mit strafendem Blick, und sie hatte natürlich recht. Viele Bürger waren damals Opfer simpler Vergeßlichkeit geworden, von besonders linientreuen Parteigenossen denunziert.

1942 - Ein Fliegeralarm war ein Ereignis - bis jetzt

In meiner Heimatstadt verlief das tägliche Leben auch 1942 noch in relativ geregelten Bahnen. Nachts gab es manchmal Fliegeralarm. Doch nur, wenn das Geräusch von Flugzeugmotoren auch zu hören war, begab sich die Familie in den recht gemütlichen Luftschutzraum. Am Tag danach begann die Schule dann erst später. Insofern war ein Fliegeralarm für uns Buben eine eher angenehme Begleiterscheinung.

Über dem See - die hellen Lichter des Schweizer Ufers

Die Sommerferien verbrachten wir nach wie vor am Bodensee. Dort befand sich nicht nur das schöne Landhaus meiner Großeltern, es gab da auch ein eigenes Seegrundstück. Natürlich hielten wir uns am liebsten an und im Wasser auf. Wenn das Wetter einmal nicht so schön war, fuhren wir meistens mit einem der alten Raddampfer über den See oder spazierten durch das romantische Meersburg. Von der Terrasse des Landhauses aus sah man das schweizerische Ufer, das majestätische Säntismassiv im Hintergrund. In der Nacht leuchteten von dort Tausende von Lichtern zu uns herüber. Zeichen eines in Frieden lebenden Landes, das keinen Grund hatte, sich in der Dunkelheit vor seinen Widersachern zu verbergen.

Kriegsweihnacht 1942/43 - erste Schreckensbilder

1942/43 - Inzwischen näherte sich das Jahr 1942 seinem Ende. Wir erlebten die vierte Kriegsweihnacht. In dieser Adventszeit lud meine Großmutter eine Gruppe Schwerstverwundeter Soldaten in ihre Villa ein. Sie hatte über einen befreundeten Arzt vom Schicksal dieser Ärmsten der Armen erfahren, die - völlig von der Öffentlichkeit isoliert - in geheimghaltenen Lazaretten gepflegt wurden. Ich werde den Anblick dieser Menschen nie vergessen können. Die meisten von ihnen waren auf grauenvolle Weise verstümmelt. Ohne Beine und Arme, erblindet und mit gräßlich verbrannten Gesichtern trug man sie herein und setzte sie an die festlich geschmückte Kaffeetafel. Zum ersten Mal erlebte ich, daß meine Großmutter Sprache und Fassung verlor.

1943 - Die Nazis zeigten sich jetzt von ihrer echten Seite

1943 wurden die Arbeitskräfte knapp. Mit menschenverachtender Rücksichtslosigkeit ließ Rüstungsminister Albert Speer Ersatz beschaffen. Überall in den von Deutschland besetzten Gebieten rekrutierten Sonderkommandos Millionen von sogenannten „Fremdarbeitern" und zwangen sie zur Arbeit in den Rüstungsbetrieben.

Auch SABA erhielt ein Kontingent von Zwangsarbeitern zugeteilt. Sie waren in einem Barackendorf auf dem Werksgelände untergebracht, streng kontrolliert und ohne Kontakt mit der Außenwelt. Ihre kärgliche Freizeit verbrachten sie im Lager. Bei miserabler Bezahlung mußten sie zehn und mehr Stunden pro Tag hart arbeiten.

Unsere Mutter konnte es nicht mit ansehen

Wenigstens wurden sie von ihren deutschen Arbeitskollegen menschenwürdig behandelt. Meine Mutter ging oft in das Lager oder empfing eine von den Ausländern beauftragte Delegation. Wenn sie auch nicht viel zur Verbesserung der Lebensumstände dieser unglücklichen Menschen beitragen konnte, so gelang es ihr manchmal doch, besonders eklatante Mißstände zu beseitigen.

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