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Teil 1 - Hermann Brunner-Schwer erzählt in der "Ich"-Form:

Und er erzählt natürlich die historischen Gegebenheiten aus seiner (SABA-) Sicht und mit seinem Wissen. In die einzelnen Geschichten werden jetzt eine Menge zusätzlicher Informationen aus anderen großen Werken glaubwürdiger Autoren eingebaut.

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Dann kam der 19. April 1945, ein Donnerstag.

Schon am Morgen heulten die Sirenen. Die üblichen Überflüge feindlicher Flugzeuge, das gewohnte Bild. Gegen 11 Uhr erschien mein Stiefvater wieder vor der Haustür. Er wollte seinen BMW in Sicherheit bringen, einen zweisitzigen Sportwagen, den er kurz vor dem Krieg gekauft, aber so gut wie nicht gefahren hatte. Das Traumauto stand aufgebockt in der Garage. Er hatte einen Fahrer dabei, der ihm helfen sollte, das Fahrzeug wieder flott zu machen. Die Dienstauffassung des ehemaligen Oberstaffelführers und Offiziers der deutschen Wehrmacht schien offensichtlich etwas gelitten zu haben. Anstatt des Führers Befehl zu folgen und bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, kümmerte er sich lieber um sein Spielzeug. Aber er hatte ja Recht.

Wir waren das Ziel - die SABA Fabrik - „Volle Deckung"

Während meine Mutter das Mittagessen kochte, gingen mein Bruder und ich durch den Garten zur Garage. Wir wollten den Renner wenigstens einmal in Betrieb sehen. Doch daraus wurde nichts. Fliegeralarm. In den Klang der Sirenen mischte sich das Orgeln von Flugzeugmotoren. Dann sahen wir sie. Es waren zehn bis zwölf Marauder, zweimotorige Mittelstreckenbomber der Amerikaner. Sie flogen von Süden her an, sehr tief. Kurz bevor sie über uns waren, ließ die Führungsmaschine eine Rauchbombe fallen, die Zielmarkierung. Die Bombenschächte der Angreifer öffneten sich. „Volle Deckung", brüllte ich, dann ein widerliches, gurgelndes Geräusch - fallende Bomben!

Mein Stiefvater war erstmalig schneeweiß im Gesicht.

Wir lagen auf dem Bauch, die Arme über dem Kopf, völlig schutzlos. Blitzartig kam mir in den Sinn, daß meine Mutter in der Küche sein mußte. Ich wollte aufspringen, hinüberlaufen zum Haus, um sie zu warnen. Zu spät. Die Bomben detonierten in rasender Reihenfolge, verdammt nahe. Die Erde vibrierte, begann zu beben. Ich wurde durchgeschüttelt, in den Ohren schmerzhafte Stiche. Und wieder wurden Sekunden zur Ewigkeit. Dann eine plötzliche Stille, nur noch das Brummen der abfliegenden Bomber. Vorsichtig hob ich den Kopf, zog ihn aber schnell wieder ein, denn jetzt hagelte es Erdbrocken, Steine und Splitter. Auf der Werksstraße Schreie flüchtender Menschen: „Weg, nichts wie weg, die kommen zurück!" Sie kamen nicht zurück. Benommen stand ich auf, mein Bruder lag immer noch in Deckung. Aus der Garage kam mein Stiefvater herausgerannt, schneeweiß im Gesicht.

Sie haben "uns" bombardiert

Über unseren Köpfen wuchs ein riesiger Rauchpilz empor. Die Brigach, sonst nur ein harmloser Bach, schien zu kochen, verwandelte sich von Sekunde zu Sekunde in ein reißendes, rotbraun gefärbtes Gewässer. Geborstene Balken wirbelten in den sich überschlagenden Wellen. Gottlob, unser Haus stand noch, scheinbar unbeschädigt. Nur das Dach sah lädiert aus und einige Fenster fehlten. Wir fanden meine Mutter und die übrigen Hausbewohner im Luftschutzkeller, wohlauf, aber schwer geschockt. Im Küchenfensterbrett stak ein Bombensplitter, doppelt so groß wie meine Hand, mit ausgeglühten, rasiermesserscharfen Kanten. Er hatte meine Mutter nur um Haaresbreite verfehlt.

Was ist mit den Menschen in der Fabrik ?

„Um Gottes Willen, was ist mit den Menschen in der Fabrik, holt Hilfe." Sie flüsterte mehr, als daß sie sprach. Mein Stiefvater rannte los, mein Bruder und ich hinter ihm her. Es waren ja nur wenige Meter bis zum Werksgelände. Schon der erste Blick machte es nur allzu deutlich. Die Hälfte des Werkes lag in Trümmern, existierte nicht mehr. Das jüngste, nur wenige Jahre alte Gebäude lag zusammengebrochen vor unseren Augen, von zwei Volltreffern zerschlagen. Dort befanden sich die Entwicklungslabors, die Konstruktionsabteilung, die Musterwerkstatt, der Vorrichtungs- und Werkzeugbau. Die dem Gebäude benachbarten Hallen mit der Automatendreherei, der Galvanik, der Lackiererei und Stanzerei waren zerfetzt. Das Rohmateriallager war nur noch ein Haufen Schutt. Das Verwaltungsgebäude hatte kein Dach mehr.

Stahlbetonwände - weggefegt

Alle übrigen Gebäude wiesen schwere Beschädigungen auf. Kaum noch eine Fensterscheibe war ganz, die Türen aus den Angeln gerissen. Metertiefe Bombentrichter, das ganze Areal mit Trümmerstücken übersät. Der Detonationsdruck hatte zentnerschwere Schwungräder hoch in die Luft fliegen lassen, die dann selbst zu Bomben wurden und die Dächer durchschlagen hatten. Weggefegt ein mit dicken Stahlbetonwänden bewährter Feuerwehrbunker. Aus geborstenen Leitungen spritzten Wasserfontänen, an einigen Stellen loderten Brände.

Vorerst keine Toten - Glück gehabt

Was für ein Glück, daß nur während der Nacht gearbeitet werden durfte. Der Angriff hätte unter den weit über 1000 Werksangehörigen ein Blutbad angerichtet. So aber hatten sich nur wenige, zu einer Art Bereitschaftsdienst eingeteilte Mitarbeiter in den Fabrikanlagen aufgehalten. Einige von ihnen hatten gerade einen der routinemäßigen Kontrollgänge absolviert, als die Bomben fielen. Sie kamen aber wie durch ein Wunder mit dem Schrecken davon. Andere hatten sich in die Luftschutzräume geflüchtet. Ihnen galt unsere Suche.

Doch, im Keller verschüttet

„Sie müssen im Keller des Bau 40 sein", rief jemand. Dort befand sich auch die Luftschutzzentrale, und genau dieser Fabrikteil wies die schwersten Verwüstungen auf. Nur mit Mühe kamen wir vorwärts, Schuttberge, herabgestürzte Eisenträger oder umgekippte Maschinen versperrten immer wieder den Weg. Auf einer halb eingefallenen Treppe stolperte uns ein Mann entgegen, über und über mit Staub bedeckt. Er schrie: „Ein paar sind eingeschlossen oder verschüttet, es müssen Äxte, Pickel und Stemmeisen her!"

Ein holländischer Zwangsarbeiter mußte sterben

Wir arbeiteten fieberhaft, um den Kellereingang freizulegen. Endlich kam Verstärkung, Männer der technischen Nothilfe, der städtischen Feuerwehr und Soldaten von der benachbarten Kaserne. Jezt konnte auch geeignetes Bergungsgerät eingesetzt werden. Die Eingeschlossenen lebten. Benommen taumelten sie ins Freie, Sanitäter nahmen sich ihrer an. Ein holländischer Zwangsarbeiter gehörte zu den Geretteten. Er stand auf wackligen Beinen, brach dann plötzlich in ein hysterisches Gelächter aus und sank in sich zusammen. Er starb im Krankenhaus an schweren inneren Verletzungen.

Zwei weitere Tote wurden gefunden

Zwei weitere Menschen waren getötet worden, ein französischer Zwangsarbeiter, der in einem Straßengraben ums Leben kam und eine Frau. Man fand ihre Überreste neben der Einschlagstelle einer der wenigen Bomben, die ihr Ziel verfehlt hatten. Im Lauf des Nachmittags kamen viele unserer Mitarbeiter. Sie standen zuerst verstört vor dem, was von ihren Arbeitsplätzen übrig blieb und begannen dann aufzuräumen. Der kommissarisch eingesetzte Betriebsführer erließ eine Art Tagesbefehl und forderte die unverzügliche Wiederaufnahme der Produktion. Eine so idiotische wie sinnlose Anordnung. Man konnte nur den Kopf schütteln und den Herrn zum Teufel wünschen.

Eine Frage, auf die wir nie eine Antwort bekamen:

Es wurde spät in dieser Nacht. Die Katastrophe und was sie bedeutete - erst allmählich begannen wir zu begreifen. Und immer wieder die Frage: Was nur hatte die Amerikaner bewogen, SABA zu bombardieren, so wenige Stunden vor dem Ende? Die französischen Truppen waren ja nur noch wenige Kilometer von Villingen enfernt. Ein Irrtum konnte es nicht gewesen sein. Dafür hatten sie zu genau gezielt, Präzisionsarbeit geleistet. Sowohl das direkt neben dem Bau 40 gelegene Lager der ausländischen Zwangsarbeiter blieb verschont wie das nur einen Steinwurf entfernte Lager der Kriegsgefangenen.

Eine Frage, auf die wir nie eine Antwort bekamen. Auch nicht, als sich die amerikanischen Bomberpiloten einige Wochen später auf den Trümmern fotografieren ließen. Ich sprach einen von ihnen mit meinem Schulenglisch an. „We got the order and we did a good job, didn't we?" Er grinste und gab mir einen Kaugummi.

Vater Scherb versteckte den BMW

In der Zwischenzeit war Stiefvater Scherb mit seinem BMW davongefahren. Er versteckte das Kleinod im Heustall eines abgelegenen Bauernhofes und schlug sich dann zu seiner Truppe durch. Wir sollten ihn bald schon wiedersehen.

20. April 1945 - Des Führers Geburtstag.

Freitag, 20. April 1945. Das Datum im Kalender rot ausgedruckt: Führers Geburtstag. Einst ein nationales Ereignis mit Feierstunden überall im Land. Und heute?
Die ersten Flugzeuge tauchten gegen neun Uhr auf. Sie warfen Brandbomben über dem Bahnhofsviertel ab. Einige Häuser gingen in Flammen auf. Ich ging wieder in die kaputte Fabrik und wollte mich irgendwie nützlich machen. Dort blieben die Aufräumungsarbeiten aber schon im Ansatz stecken. Ein Fliegeralarm jagte den anderen, jedesmal ließen die Helfer alles liegen und stehen. Sie befürchteten einen weiteren Angriff auf das Werk und rannten davon.

Die Front kam immer näher

Hektik begann um sich zu greifen. Gerüchte machten die Runde. Feindliche Panzerverbände stünden bereits in der Nähe der benachbarten Ortschaft Königsfeld. Sie würden Villingen noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Ich zweifelte nicht daran, zumal man das Abfeuern von Panzergeschützen immer deutlicher hörte.

Die Nervosität steigerte sich mit der Herausgabe der Parole „lahmer Hund", der verschlüsselte Befehl, Maschinen, Apparaturen und Fertigungsanlagen entweder zu zerstören oder durch den Ausbau von Teilen unbrauchbar zu machen. Das aber hatten die Amerikaner ja tags zuvor schon gründlich besorgt.

Alle wußten es - der Krieg war verloren

Im Durcheinander der letzten Stunden entdeckte ich den Offizier, der für die Abnahme der Kriegsproduktion zuständig war. Mit einer prall gefüllten Aktenmappe in der Hand verschwand er hinter einem am Ufer der Brigach stehenden Busch. Neugierig ging ich ihm nach und sah zu, wie er, ängstlich um sich blickend, ein dickes Bündel Geheimpapiere verbrannte. Er warf die verkohlten Reste in den Bach und machte sich davon.

Ein letzter Kotzbrocken wollte kämpfen

Groß in Szene zu setzen versuchte sich dagegen ein Major, der an der Spitze eines aus mehreren Militärfahrzeugen zusammengesetzten Konvois auf den Fabrikhof gefahren kam. Laut brüllend verlangte er den Schlüssel für die firmeneigene Tankstelle. Alle noch vorhandenen Benzinvorräte seien hiermit beschlagnahmt. Niemand wußte, wo sich dieser Schlüssel befand. Vielleicht hatte ihn Emil Schanz, SABAs Einkaufschef. Der aufgeregte Major begann an seiner Pistolentasche herumzufingern. Die Lage wurde kritisch. Ich machte mich auf die Suche und fand Schanz in seinem Büro. Er steckte in einem Luftschutzoverall und war gerade dabei, wichtige Akten sicherzustellen. Es sah wüst aus, so wüst wie in den anderen Räumen der Verwaltung. Als ob eine Windhose gewütet hätte, Schreibtische, Schränke, Tische und Stühle, Aktenordner, Bücher und Büromaschinen lagen wie Kraut und 120 Rüben durcheinander. Der Detonationsdruck mußte durch das Gebäude gerast sein wie ein Orkan. Überall Glassplitter, das zerschun-dene Mobiliar mit einer dicken Staubschicht bedeckt.

Beinahe wäre die Situation eskaliert

Schanz, ein wegen seiner Bärbeißigkeit bei Lieferanten und Mitarbeitern gefürchteter Schwabe, begegnete dem Major mit finsterem Gesicht und verlangte nach dem Requisitionsschein. Der aber verlor nun vollends die Nerven. Er riß seine Pistole heraus und schrie: „Das ist mein Requisitionsschein, sie Heini!" Männer des Werksschutzes drängten sich dazwischen. Der Offizier sah wohl ein, daß er zu weit gegangen war, denn er schritt unvermittelt zu seinem Wagen zurück.

Ein SS Standarspruch - "an die Wand stellen"

„Ich komme wieder und lasse Sie an die Wand stellen", rief er Schanz noch zu. Dann brauste er ab. Seine Soldaten folgten ihm, sie hatten die Auseinandersetzung völlig teilnahmslos verfolgt. Der gute Schanz aber bekam es offensichtlich doch mit der Angst zu tun. Er meldete sich ab und ging nach Hause. Nach Hause geschickt wurden auch die anderen Mitarbeiter. Sie wollten bei ihren Familien sein in diesem für die Einwohner der Stadt so ungewissen wie bedrohlichen Augenblick.

Die Gefangenen bekamen das alles hautnah mit

Die ausländischen Arbeiter beobachteten die Vorgänge mit gespannter Aufmerksamkeit. Sie fingen an zu provozieren, ließen uns spüren, daß sie bald die Herren in diesem Hause sein würden.

Wir „entnazifizierten" unser Haus

Zu Hause begannen die letzten Vorbereitungen für das Unabwendbare. Das große, in Öl gemalte Hitlerbild verschwand hinter dem Küchenschrank. Das Portrait eines Mädchens in Schwarzwälder Tracht trat an seine Stelle und verdeckte die dunklen Umrisse, die des Führers Konterfei an der Wand hinterlassen hatten. Die Fahne mit dem Hakenkreuz wanderte ebenso in den Heizungsofen wie die Parteibücher meiner Eltern. Alles, was als sichtbarer Beweis für eine Bewunderung des Dritten Reiches und seiner Anführer hatte ausgelegt werden können, warfen wir weg.

Nachdem das Haus einigermaßen „entnazifiziert" war, trafen wir Vorkehrungen für unsere eigene Sicherheit. Wir wollten etwaige Kampfhandlungen möglichst unbeschadet überleben. Während meine Mutter die noch vorhandenen Lebensmittel in Rationen aufteilte, schleppten mein Bruder und ich Matratzen, Kissen und Decken in den Keller. Dann füllten wir Wannen, Kübel und Waschbecken mit Wasser, suchten Kerzen, Streichhölzer und Taschenlampen zusammen, um bei einem Stromausfall nicht im Dunkeln zu stehen.

Nur noch geplant :

Kopfzerbrechen bereitete uns die große Schmuckschatulle. In ihr befanden sich wertvolle Stücke, die meine Großmutter bei gesellschaftlichen Anlässen früher mit Vorliebe getragen hatte. Meine Mutter machte sich nie viel aus diesen Dingen, und das war auch der Grund dafür, daß sie vergessen hatte, den Familienschmuck rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Schließlich packten wir die Juwelen in Ölpapier ein, steckten das Ganze in eine Milchkanne und verklebten den Deckel mit Leukoplast. In der Dunkelheit der kommenden Nacht sollte der Schatz an einer abgelegenen Stelle unseres Gartens heimlich vergraben werden.

SABAs Überreste - offen für Plünderer

In der Fabrik befanden sich mittlerweile nur noch wenige Angehörige des Werksschutzes, Freiwillige, die versuchten, das große Areal so gut wie irgend möglich zu bewachen. Vergeblich. Der Werkszaun war an vielen Stellen durchlöchert, die noch stehenden Gebäude ohne Fenster und Türen, mit mannsgroßen Löchern in den Mauern. SABAs Überreste lagen völlig schutzlos auf dem Präsentierteller, für Plünderer so offen wie ein Scheunentor. Gegen Abend gingen wir wieder in die Fabrik. Wir wollten die paar Männer, die dort noch ausharrten, nicht alleine lassen. Ihnen schien das Schicksal des Werks genauso am Herzen zu liegen wie uns. Doch was konnten sie jetzt noch tun? Mut besaßen sie jedenfalls. Sie verjagten die ersten Plünderer ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben.

Ich hatte damals eine richtige Pistole geklaut

Zuvor stieg ich auf den Speicher und holte die Pistole, die unter einem Dachsparren versteckt war. Ich lud sie durch, steckte sie in den Hosenbund und fühlte mich gleich etwas wohler. Zumindest bildete ich mir das ein. Es handelte sich um eine geklaute Walther PPK, Kaliber 7,65. Als vor Monaten ein paar Parteibonzen zu Besuch gekommen waren, hatten sie ihre goldgelben Uniformmäntel samt Koppel und Pistolentaschen an die Garderobe gehängt. Während sie im Herrenzimmer bei einer Flasche Kognak über die Lage palaverten, hatte ich mich angeschlichen und die Waffe einer dieser Herren mit meiner Schreckschußpistole vertauscht. Der Diebstahl blieb für mich ohne Folgen, wahrscheinlich fiel er dem Bestohlenen viel zu spät auf, als daß er die Spur hätte zurückverfolgen können. Gewissensbisse verspürte ich jedenfalls keine.

Retten, was zu retten ist

In der Versandabteilung trafen wir auf Albert Riegger, Prokurist und Kassenvorstand, schon viele Jahre bei SABA. Er mühte sich mit einer großen Metallkiste ab, vollbepackt mit technischen Unterlagen, Filmen und Schaltplänen. „Das Ding muß schnell noch weg", flüsterte Riegger. Doch wohin damit? So ohne weiteres vergraben konnte man den Behälter nicht, dafür war er viel zu groß, außerdem fühlten wir uns beobachtet. Also bugsierten wir das Monstrum in eine Ecke und stapelten Kartons darüber.

Die letzte Truppe der Halbwüchsigen und Veteranen

Im Lager der Kriegsgefangenen schien noch Ruhe zu herrschen. Doch auf dem benachbarten Kasernengelände ging es ziemlich turbulent zu. Lastwagen wurden in aller Eile beladen, Soldaten rannten kopflos durcheinander. „Gott sei Dank, die hauen ab", meinte einer der Männer vom Werksschutz. Und so war es auch. Das in den Kasernen stationierte Jäger-Ersatzbataillon 56 rückte ab. Der noch am selben Tag zum „Kampfkommandanten" von Villingen ernannte Hauptmann Niedermeier widersetzte sich dem Befehl, die Stadt zu verteidigen und ihre Brücken in die Luft zu jagen. Das Bataillon verfügte zwar über an die tausend Soldaten, von einer schlagkräftigen Truppe konnte trotzdem keine Rede sein. Sie bestand aus gerade erst eingezogenen Halbwüchsigen und Veteranen, durchmischt mit „gesund" geschriebenen Verwundeten aus Lazaretten der näheren Umgebung. Ausbildungsstand und Bewaffnung wiesen so gravierende Mängel auf, daß eine Gegenwehr nur zu sinnlosen Menschenopfern und möglicherweise auch zu einer Zerstörung der Stadt geführt hätte.

Villingen wurde nicht "von uns" gesprengt

Diese Gefahr zumindest war durch den Mut des einsichtigen Hauptmanns gebannt. So schien es jedenfalls. Was wir in jenen Stunden allerdings noch nicht wußten: den Franzosen gelang es, aus nördlicher Richtung bis hin zur schweizerischen Grenze vorzustoßen und die noch im südlichen Schwarzwald operierenden deutschen Verbände einzukesseln. Den Eingeschlossenen blieb lediglich die Wahl, sich entweder zu ergeben oder aber den Gegner im Villinger Raum anzugreifen und nach Osten durchzubrechen.

Als die Nacht anbrach, erreichten französische Panzerspitzen den Rand der Stadt. Geschütze bellten, Feuerstöße aus Maschinenwaffen. Jetzt wurde es höchste Zeit, das Fabrikgelände zu verlassen und Schutz zu suchen.

Die Stadt hielt den Atem an.

Kleinere Trupps versprengter Deutscher leisteten vereinzelten Widerstand. Sie schossen den einen oder anderen Panzerwagen ab, was die Angreifer umso heftiger reagieren ließ. Ein Teil der Bevölkerung verkroch sich in den Kellern ihrer Häuser. Der andere stürmte das Verpflegungslager der von den Militärs verlassenen Kaserne.

Die öffentliche Ordnung - zusammengebrochen

Von einem Augenblick zum andern brach die öffentliche Ordnung zusammen. Kein Gedanke mehr an Disziplin oder Rücksichtnahme. Blinde Raffgier siegte über die Angst, von Geschoßgarben getroffen zu werden. Wie die hungrigen Hyänen stürzten sie sich auf die Lebensmittel, karrten Zucker, Salz, Mehl, Hülsenfrüchte, Fett oder Käse sackweise nach Hause.

Plünderer - hier bei uns ?

Plünderungen sollte es noch viele geben in den Wochen danach. Den Anfang machten aber nicht etwa die befreiten Kriegsgefangenen, zur Zwangsarbeit gepreßte Ausländer oder die einmarschierenden Franzosen: es waren wir selbst, die Deutschen!

Eine unruhige Nacht.

Das im Keller hergerichtete Matratzenlager blieb so gut wie unberührt. Ich versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Gegen 22 Uhr überflog ein einzelnes Flugzeug unser Haus. Sekunden später schlug eine Bombe ein, keine zweihundert Meter weit weg. Ein gewaltiger Knall. Es wackelte im Gebälk, dann gingen alle Lichter aus. Der Sprengkörper hatte einen Leitungsmast der örtlichen Stromversorgung getroffen. Bei Kerzenlicht saßen wir im Luftschutzraum und versuchten, das nahe Geschehen mit den Ohren zu verfolgen. Von Zeit zu Zeit schlich ich mich nach oben und spähte durch ein Fenster. Doch außer Feuerschein, sporadischem Mündungsfeuer und ein paar Leuchtspurgeschossen war kaum etwas zu erkennen.

Als endlich der Morgen dämmerte ....

.... kam eine schier unwirklich anmutende Stille auf. Ich setzte mich in die Nähe eines der Straße zugewandten Fenster und begann zu warten. Auf was? Auf die Gesichter der Sieger, auf die Geschlagenen, entwaffnet, mit erhobenen Armen, dem Zeichen der Kapitulation? Ich konnte meine Gedanken nicht ordnen, es war alles so verschwommen.

Ich war Augenzeuge - von dieser Wirklichkeit.

Die Ereignisse der letzten Monate, Wochen, Tage und Stunden, die Ängste, der Mangel an Schlaf, die Umkehr aller Begriffe, die mir bislang so hoch und heilig waren. Waren sie das wirklich? Aber auch ich hatte so vieles vor mir her geschoben. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, was um mich geschah, obwohl ich zu einem Teil davon wurde, ein Augenzeuge.

Der Kampf ums nackte Überleben begann

Aber wer dachte überhaupt noch nach, in dieser Phase des unwiderruflichen Untergangs aller hoch gehaltenen Attribute des nationalen Stolzes? Der Kampf ums nackte Überleben verdrängte alle Gedanken an die Zusammenhänge und deren Verursacher. Wie sollte ein knapp Sechzehnjähriger damit fertig werden, wenn es den Erwachsenen mit all ihrer Lebenserfahrung nicht gelang? Fragen über Fragen, auf die ich keine Anwort fand, so sehr ich danach suchte. Ich fühlte mich alleingelassen, meines Glaubens beraubt, mißbraucht, belogen und orientierungslos.

Jubel der französischen Zwangsarbeiter über die Panzer

Stimmen rissen mich aus meiner Grübelei. Eine Gruppe jubelnder Menschen hatte sich inzwischen auf der Straße versammelt. Sie sangen und schwenkten Fahnen in blau-weiß-roten Farben, den Farben der Trikolore: französische Zwangsarbeiter erwarteten ihre Befreier. Dann ertönte das Geräusch von schweren Motoren, das Klirren von Panzerketten. Langsam tasteten sich die grauen Ungetüme heran. Die Frauen und Männer liefen ihnen entgegen, umtanzten sie in unbeschreiblicher Freude. Die Kolosse hielten an, ihre Besatzungen stiegen aus und wurden sogleich abgeküßt, schier erdrückt von einer Menschenmenge, die sich wie verrückt aufführte.

Ich beobachtete die Szene mit zusammengebissenen Zähnen und konnte meine Tränen trotzdem nicht zurückhalten. Meine Mutter betrat das Zimmer. Sie wußte sofort, was in mir vorging, und nahm mich wortlos in ihre Arme.

Der Krieg war aus - jedenfalls für uns.

Was war wohl während der letzten Stunden in der Fabrik geschehen? Verschlossene Türen gab es dort keine, besonders nach dem verhängnisvollen Bombenabwurf, und bewacht werden konnte das Areal auch nicht mehr. Nach einigem Überlegen faßte ich mir ein Herz. Ich machte mich auf einen ersten vorsichtigen Erkundungsgang. Um meine Mutter nicht zu beunruhigen, ging ich unter dem Vorwand, frische Luft schnappen zu wollen.

Jetzt kamen die richtigen Geier

An der Werkspforte standen ein paar bewaffnete Zivilisten, mit Sicherheit Ausländer aus dem Arbeitslager. Aber es war auch möglich, vom Garten aus in die Fabrik zu kommen. An den Anblick der Zerstörung hatte ich mich zwar schon halbwegs gewöhnt, noch nicht aber an den der blindwütigen Plünderer. Sie waren überall: Hunderte ehemaliger Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter suchten nach Beute. Sie brachen Schränke, Behälter und Kisten auf, schütteten Widerstände, Kondensatoren und andere Bauelemente auf den Boden. Was ihnen nicht wertvoll genug erschien, zertrampelten sie oder warfen es aus den zerbrochenen Fenstern. Sie demolierten beste Meßgeräte, noch intakte Maschinen und Anlagen.

Sie stopften Werkzeuge, Radioröhren, Kupferdrahtrollen, aber auch Kleidungsstücke aus den Spinden in immer praller werdende Säcke. Aber sie ließen mich ungeschoren. Der Raubzug schien ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen zu haben. Einige versuchten, die überfluteten Kellerräume des am schwersten getroffenen Fabrikgebäudes leerzupumpen. Alles stand dort unter Wasser, weil auch die Kanalistion durch die Bomben in Mitleidenschaft gezogen worden war. Offensichtlich wußten sie, daß sich dort ein großes Lager von besonders wertvollen Materialien befand.

Und der Rest wurde einfach kaputt gemacht

Auch im Verwaltungsgebäude wurde in den Schränken herumgewühlt. Was an Akten, Unterlagen und Dokumenten nicht schon beim Bombenangriff durch die Räume flog, wurde herausgerissen und landete auf dem Fußboden.

In der Lohnbuchhaltung standen zwei Kassenschränke. Einer von ihnen wurde mit einer geballten Ladung aufgesprengt. Er enthielt 60.000 Reichsmark, von denen lediglich ein paar zerfetzte Geldscheine übrigblieben. Der andere Tresor schien allen Aufbruchversuchen widerstanden zu haben. Die Türe wies zwar einige Beulen und Explosionsspuren auf, war aber noch immer verschlossen. Ich machte, daß ich davon kam, bevor es einem dieser Herrschaften in den Sinn kam, mich nach dem Verbleib des Tresorschlüssels zu fragen.

Unser kleines Museum - kurz und klein geschlagen

Auf meinem Rückweg warf ich noch einen Blick in den Museumsraum. Dort befand sich die Sammlung aller Radiotypen, die bei SABA in den frühen Zwanzigerjahren gebaut worden waren, ein Spiegelbild des technischen Fortschritts zweier Jahrzehnte. Nichts war davon übriggeblieben. Betrunkene Holländer hatten die Apparate mit Hämmern kurz- und klein geschlagen.

Sie hatten alles, aber auch alles mitgenommen

Schließlich kam ich an den Garagen vorbei, in denen unter anderem auch die große Horch-Limousine aufgebockt war. Alle Tore standen offen. Im Inneren der Unterstellhalle gähnende Leere. Selbst das Autozubehör und die Werkstatteinrichtung waren verschwunden. Französische Kriegsgefangene wollten nach ihrer Befreiung so schnell wie möglich in ihre Heimat zurück und hatten dabei auf eigene Faust gehandelt: sie hatten sich alle Fahrzeuge, derer sie habhaft werden konnten, genommen, Sprit von der Truppe besorgt und waren losgefahren.

Kriegsrat nach einer schlaflosen Nacht

Nach einer wiederum schlaflosen Nacht hielten wir am Morgen eine Art Kriegsrat. Wichtig war es jetzt vor allem, mehr über die augenblickliche Lage vor Ort zu erfahren. Dr. Meyer-Oldenburg, unser nach Villingen verschlagener Logisgast, bot sich als Kundschafter an. Ihn kannte hier niemand, außerdem sprach er sehr gut französisch.
Also machte er sich auf den Weg in die Stadt. Er kam schon bald wieder zurück mit einem Flugblatt in der Hand. Auf diesem, vom französischen Stadtkommandanten verfaßten Papier, standen folgende

Anweisungen an die Villinger Bevölkerung:

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  • 1. Bis auf weiteres darf in den Straßen keine Person tagsüber oder nachts verkehren, außer Angehörige der sich im Dienst befindlichen Behörden, welche mit Ausweisen versehen sind, sowie Personen, die in der vorgeschriebenen Zeit Waffen usw. abliefern.
  • 2. Von 6 Uhr morgens bis 21 Uhr abends darf sich niemand an Fenstern oder Türen aufhalten.
  • 3. Von 21 Uhr abends bis 6 Uhr morgens darf niemand ausgehen.
  • 4. Die Verdunkelungsvorschriften bleiben bestehen.
  • 5. Strengster Gehorsam bei Requisitionen für die Bedürfnisse der besetzenden Alliierten, seien es Kraftwagen, Lebensmittel usw.
  • 6. Es sind bis heute 15 Uhr auf dem Rathaus abzuliefern: a) Waffen aller Art, einschließlich Munition, auch Messer, die als blanke Waffen anzusehen sind, Dolche, Seitengewehre usw. b) Feldstecher, c) Rundfunkgeräte, d) Kompasse, e) Fotoapparate.
  • 7. Alle Wehrmachtsangehörigen, auch in Zivil (Volkssturm) haben sich unverzüglich im Rathaus zu melden. Wer Wehrmachtsangehörige, auch in Zivil, versteckt, wird mit dem Tode bestraft.
  • 8. Es ist verboten, die Stadt zu verlassen.
  • 9. Alle Kraftfahrzeuge sind vom Besitzer auf dem Rathaus zu melden.
  • 10. Plündern ist bei Todesstrafe für jedermann verboten.
  • 11. Nichtbeachtung dieser Befehle kann bis zur Todesstrafe führen.

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Unsere "Sieger" hatten Angst vor dem „Werwolf"

Der Grund für das Mißtrauen der Besatzungstruppen war eine Organisation, die die Nazis noch in den letzten Kriegsmonaten aus der Taufe gehoben hatten. Sie sollte im Untergrund der von den Alliierten besetzten Reichsgebiete weiter kämpfen. Diese Partisanentruppe gab sich den hochtrabenden Namen „Werwolf" und rekrutierte sich aus Parteifunktionären sowie aus Angehörigen der SA und der SS. Per Schnellausbildung versuchte man ihnen beizubringen, wie man Brücken in die Luft jagt, Tunnels zum Einsturz bringt oder Bomben legt. Als flankierende Maßnahme war ein Aufruf an alle Deutschen gedacht: Jeder Junge, jedes Mädel, jeder Mann und jede Frau soll den Schändern der deutschen Heimat und Ehre schaden, wo immer es nur möglich ist".

Zucker war doch inzwischen viel zu wertvoll geworden

In einer aus siebzehn Sabotagevorschlägen bestehenden Liste stand, wie es gemacht wird - bis hin zum Zuckerwürfel, mit dem man den Treibstoff in den Fahrzeugen der Gegener verderben konnte. Doch das tat schon deshalb niemand, weil ein Stück Zucker viel zu wertvoll war. Man warf es lieber in die eigene Kaffeetasse als in den Bezintank der Feinde.

In Wahrheit erwies sich der „Werwolf" als eine Farce, als ein Phantom. Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis die Besatzer merkten, einem Papierwolf aufgesessen zu sein.

Mit den gesammelten Sachen zur Abgabestelle

Wir jedenfalls begannen, die auf der Liste stehenden Gegenstände zusammenzutragen. Es sammelte sich einiges an: Luftgewehre, eine Schrotflinte, Fahrtenmesser, eine wertvolle Rolleiflex-Kamera, eine alte Pistole, die meinem Großvater gehörte, ein Marschkompaß, zwei Ferngläser und drei Radioapparate. Einer davon befand sich in einer monströsen Musiktruhe mit Plattenspieler und eingebauten Lautsprechern. Das Prachtexemplar erwies sich als so schwer, daß wir zu seinem Transport einen Leiterwagen zu Hilfe nehmen mußten. Das auf Hochglanz polierte Musikmöbel aus Nußbaum thronte auf dem Karren, umgeben von den übrigen Utensilien, als wir uns auf den Weg zur Abgabestelle machten.

Villingens Eroberer - eine abenteuerliche Truppe

Zum erstenmal erlebten wir Villingens Eroberer aus der Nähe. Die Truppe machte einen abenteuerlichen Eindruck. Die meisten der französischen Soldaten steckten in amerikanischen Kampfklamotten. Einige trugen aber auch noch Uniformen, so wie ich sie aus Bildern vor der Niederlage der französischen Armee im Jahre 1940 in Erinnerung hatte.

Wo kamen jetzt die Russen her ?

Wir hatten kaum einige hundert Meter zurückgelegt, als man uns zum erstenmal anhielt. Bewaffnete Russen stellten sich in den Weg, begutachteten die Ladung und bedienten sich sofort. Übrig blieben nur die Radios und die Luftgewehre, doch auch diese fanden bald ihre Abnehmer. Als wir uns schließlich dem befohlenen Abgabeort näherten, stand nur noch die Musiktruhe einsam auf dem Wagen. Sie war der vorzeitigen Requirierung nur deshalb entgangen, weil sie zu groß und zu schwer war für ein schnelles Geschäft.

23. April 1945 - Kriegsgefangene sollten das Werk "bewachen"

23. April 1945 - In der Fabrik wurde inzwischen munter weitergeplündert. Endlich schritt die französische Kommandatur ein. Es war Montag, der 23. April. Ehemalige Kriegsgefangene erhielten den Auftrag, das Werksgelände zu bewachen. Russen, Polen und Jugoslawen sollten sich dabei gegenseitig ablösen. Doch damit wurde nur der Bock zum Gärtner gemacht. Während es sich die „Wachen" in der Pförtnerloge bequem machten und darauf achteten, daß sich kein Deutscher dem Beuteobjekt näherte, ließen sie ihre Landsleute nach wie vor gewähren.

24. auf den 25. April - beinahe kam der Krieg zurück

In der Nacht vom 24. auf den 25. April schien der Krieg noch einmal zurückzukommen. Die im südlichen Schwarzwald eingeschlossenen deutschen Truppenverbände versuchten, nach Osten hin durchzubrechen. Sie formierten sich zu drei Angriffsspitzen, wobei eine knapp an der südlichen Stadtgrenze Villingens operierte. Die Schießereien dauerten die ganze Nacht an, eine ohrenbetäubende Kanonade, es blitzte und krachte unablässig. Der Nachthimmel färbte sich rot von brennenden Fahrzeugen und Häusern. Die französischen Truppen igelten sich ein, und die Angreifer wurden vorübergehend zu Verteidigern. Wieder verbrachten wir eine angstvolle Nacht im Keller unseres Hauses.

Französische Soldaten "besetzten" die Werksanlagen

Nach dem Abflauen der Kampfhandlungen besetzten französische Soldaten die Werksanlagen. Sie verhinderten zwar weitere Plünderungen, doch jetzt gingen die Soldaten selbst auf die Suche nach „Souvenirs". Viel hatten ihre Vorgänger nicht übriggelassen. Als sie schließlich feststellten, daß kaum noch etwas Wertvolles zu holen war, schlugen sie alles, was noch irgendwie ganz gewesen zu sein schien, kurz und klein.

Es gab für mich (für uns) auch Lichtblicke - zum Glück

Es gab aber auch Versöhnliches in diesen ersten Tagen der Revanche und den begreiflichen Reaktionen auf all das Schreckliche, was Deutschland und die Deutschen zu verantworten hatten. So erhielt meine Mutter Besuch von der Delegation ehemaliger SABA-Zwangsarbeiter. Sie kamen nicht mit Forderungen auf Schadensersatz oder auf Wiedergutmachung. Nein, diese Männer erkundigten sich in höflicher Form nach unserem Wohlergehen, ob wir belästigt worden wären und in welcher Form man uns behilflich sein könne, damit nicht noch mehr Unheil geschähe.

Und noch ein fast nicht wahres Erlebnis vom 25. April

Aber nicht nur diese Geste blieb mir in Erinnerung. Es war am 25. April, vier Tage nach der Besetzung der Stadt, als wieder einmal energisch an die Haustür geklopft wurde. Ich öffnete und sah mich einem französischen Feldwebel gegenüber, den ich wegen seiner Uniform zunächst für einen Amerikaner hielt: Den Helm ins Genick geschoben, im Mundwinkel eine Zigarette, eine Pistole am Koppel. Doch der Mann stammte aus Lothringen und sprach ein fehlerloses Deutsch.

Erst mal ein rauher Ton

„Wo ist der BMW", herrschte er mich an. Als ich ihm sagte, daß der Wagen noch wenige Stunden vor dem französischen Einmarsch von einem deutschen Offizier abgeholt worden sei, glaubte er mir nicht. Ich ging mit dem Feldwebel durch den Garten zu der kleinen Privatgarage. Das Tor stand offen, das Schloß war demoliert, also hatten auch schon andere ihr Glück versucht.

Dann taute er auf - der deutschsprachige Fremde

„Schade", sagte der Lothringer. Er setzte sich auf einen Hocker, zog eine Schachtel Chesterfield aus der Tasche und bot mir eine an. Geraucht hatte ich bis dahin nur sehr selten. Ich wollte auch schon ablehnen, doch das hätte mein Gegenüber möglicherweise in den falschen Hals bekommen. Schon nach dem ersten Zug wurde mir schwindlig.

Der Franzose grinste. „Schmeiß den Glimmstengel lieber weg, bevor du dir in die Hosen scheißt." Dann begann er zu erzählen. Sein Vater habe eine Fabrik und produziere Zubehörteile für die Kraftfahrzeugindustrie. Er selbst sei ein Autonarr und BMW seine Lieblingsmarke. Seitdem er mit seiner Einheit auf deutschem Boden operiere, habe er sich nach einem BMW-Sportwagen umgesehen, die Akten diverser Zulassungsstellen durchforscht, aber erst in Villingen sei er fündig geworden. So dachte er zumindest, als er die Adresse meines Stiefvaters herausbekam.

Ich durfte mit in "unsere" Fabrik

„Na ja, sehen wir mal in der Fabrik nach, möglich, daß dort noch etwas Brauchbares herumsteht. Komm mit!" Der Sergeant würde auch dort vergeblich suchen, doch ich hielt den Mund. So konnte ich wenigstens wieder einen Blick auf das Werksgelände werfen, ohne von den Wachen behelligt zu werden. Der Anblick des zerstörten Werkes schien den BMW-Fan sichtlich zu beeindrucken. Statt nach einem fahrbaren Untersatz zu suchen, stiefelte er mit mir über die Trümmerstätte.

Meine allererste Begegnung mit Marokkanern

„Wann hat es euch denn erwischt", fragte er und schüttelte den Kopf, als ich ihm auf seine Frage antwortete. „Idiotisch", meinte er nur und steuerte schließlich auf das dachlose Verwaltungsgebäude zu. Dort residierten die zum Schutz der Fabrik abkommandierten Soldaten, in der Mehrzahl Marokkaner. Es sah unbeschreiblich aus, als hätte eine Horde von Vandalen ihr Unwesen getrieben. Dazu stank es erbärmlich, überall lagen menschliche Exkremente herum. Den Hintern putzten sie sich mit Akten, es gab ja Berge davon.

In einem der Bürozimmer hatten Marokkaner ein regelrechtes Lagerfeuer auf dem Fußboden entfacht. Sie hockten darum, um sich aufzuwärmen.

Die Marokkaner waren nicht zu beeindrucken

Jetzt platzte dem Sergeant der Kragen. Er schrie die Kerle im Kasernenhofton an und trampelte das Feuer aus. Die Gescholtenen zeigten sich wenig beeindruckt. Im Gegenteil, sie blickten uns mit haßerfüllten Augen an, mir wurde jedenfalls ziemlich mulmig dabei. Mein Begleiter versuchte, die aufgebrachten Gemüter mit einer Runde Zigaretten zu beruhigen. Sie verweigerten das Friedensangebot und bedeuteten uns stattdessen, ihnen zu folgen. Wohin wohl, in jenen Raum, in dem der große Kassenschrank noch immer allen Öffnungsversuchen widerstanden hatte! Ein langes, lautstarkes Palaver begann. Dabei zeigten sie immer auf mich. Wäre ich doch bloß zu Hause geblieben! Nach ein paar Minuten fand die hitzige Diskussion ein plötzliches Ende. Der Lothringer packte mich ziemlich unsanft am Arm und zog mich ins Freie.

Was ich nicht wußte, "er" hatte einen "Plan"

„Das sind ziemlich rabiate Burschen. Machen wir uns also lieber auf die Schlüsselsuche." Der Lothringer war offensichtlich sauer, weil sein Dienstrang nicht akzeptiert wurde. Mit der Disziplin schien es in dieser Truppe jedenfalls nicht weit her zu sein. Aber wo nur, um alles in der Welt, konnte dieser verdammte Schlüssel sein? Möglicherweise wußte es Emil Schanz, der Einkaufschef, und der wohnte ein paar Häuser weiter. - Er wußte es nicht. Als er mich und meinen uniformierten Begleiter erblickte, geriet er beinahe in Panik.

Albert Riegger, der Kassenvorstand gab uns den Schlüssel

Was nun? Als einzige Hoffnung blieb noch Albert Riegger, der Kassenvorstand. Und tatsächlich, er hatte den ominösen Schlüssel in Verwahrung. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Laut Riegger befand sich ein Teil der Lohngelder in jenem Tresor. Die kleinen Geldscheine lägen gebündelt in verschiedenen Fächern, während die großen Banknoten in der Ledermappe im untersten Fach des Kassenschrankes zu finden seien.

Ich hatte immer noch nichts verstanden .......

Als wir in den Kassenraum zurückkamen, wurden wir sofort von einer ganzen Meute gierig blickender Soldaten umringt. Sie stießen mich auf die Seite, während der Sergeant betont langsam auf den Tresor zuschritt und den Schlüssel wie ein Siegeszeichen in die Höhe hielt.
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........ der Sergeant trickste sie alle aus !

Dann ging alles sehr schnell. Kaum hatte er die Türe aufgeschlossen und geöffnet, griff er nach dem gebündelten Geld und warf es unter die Leute, so als füttere er ein Rudel hungriger Wölfe. Sofort begann eine regelrechte Balgerei. Banknoten wirbelten durch die Luft. Jeder wollte so viel wie möglich von dieser gewaltig aussehenden Geldmenge erbeuten. Sie stopften sich die Taschen voll und bemerkten vor lauter Habgier nicht, daß dieser Geldregen nur aus Ein-, Zwei-, Fünf- oder allenfalls aus Zehnmarkscheinen bestand.

Ich irrte mich in dem Lothringer gründlich.

Der Spuk endete so schnell, wie er begonnen hatte. Der Raum leerte sich von einer Minute auf die andere, nur der Lothringer und ich blieben übrig. Er grinste mich an, bückte sich, zog die prallgefüllte Ledertasche aus dem Schrank und sagte: „Machen wir, daß wir hier wegkommen." Ein raffinierter Hund, dachte ich, der hat seine Waffenbrüder aufs Kreuz gelegt und stiehlt sich jetzt mit dem Löwenanteil davon. Ich irrte mich gründlich.

Unbehelligt marschierten wir duch den Fabrikhof und passierten die Wachen am Werkstor. Sie grüßten sogar, und der Sergeant grüßte lässig zurück, in der einen Hand die Tasche mit dem Geld. Doch dann forderte er mich auf, ihn zu meiner Mutter zu führen. Also nahm ich ihn mit ins Haus. Er stellte die Geldtasche auf den Tisch des Wohnzimmers. „Das gehört Ihnen, Madame. Ein kleiner Teil fehlt zwar davon, doch darüber wird Ihnen Ihr Sohn etwas zu erzählen haben".

Eine Tasche voller Geld - und dann ging er ....

Wir öffneten die Tasche. Mir gingen die Augen über. Soviel Geld auf einem Haufen, es waren hunderttausend Reichsmark in bar, unvorstellbar!

„Aber was soll ich denn damit", fragte meine Mutter und machte einen ratlosen Eindruck. „Es ist doch nichts mehr wert und außerdem, was passiert, wenn man das bei uns findet?" Der Lothringer setzte sich in einen Sessel, meine Mutter bot ihm eine Tasse Kaffee an und stellte außerdem eine Flasche französischen Cognac auf den Tisch.

„Beutegut des Herrn Gemahls?" fragte er - auf den Cognac zeigend. Wieder fing er an zu grinsen. Der Mann begann mir zu imponieren. „Sie werden dieses Geld schon bald benötigen. In der Zwischenzeit verstecken Sie es, im Heizungsraum unter den Kohlen zum Beispiel". Wir unterhielten uns noch eine Weile. Dann stand er plötzlich auf und stiefelte davon. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört.

Das erstaunliche Ende dieser "unglaublichen Geschichte"

Der Lothringer sollte recht behalten. Nur wenige Tage später kamen die ehemaligen Zwangsarbeiter ins Haus und verlangten ihren ausstehenden Lohn. Mit dem geretteten Geld konnten alle ihre Ansprüche befriedigt werden. Sie bedankten sich sogar dafür.

Und nun zur Familiengeschichte 5
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