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Teil 1 - Hermann Brunner-Schwer erzählt in der "Ich"-Form:

Und er erzählt natürlich die historischen Gegebenheiten aus seiner (SABA-) Sicht und mit seinem Wissen. In die einzelnen Geschichten werden jetzt eine Menge zusätzlicher Informationen aus anderen großen Werken glaubwürdiger Autoren eingebaut.

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1943 - Der Weg zum Untergang und ein Stück weiter ....

1943: Endlich wurde ich vierzehn. Ich wurde in die Flieger-HJ übernommen und durfte mit der fliegerischen Ausbildung beginnen. Die fing damit an, daß ich in der Werkstatt an ramponierten oder überholungsbedürftigen Segelflugzeugen herumbasteln durfte. Erst als ich eine bestimmte Anzahl von Arbeitsstunden geleistet hatte, wurde ich zum Flugdienst eingeteilt.

Mein erster Flug

Mein erster nur wenige Sekunden dauernde Hupfer wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Als mich der Fluglehrer auf dem schmalen Sitzbrett des unverkleideten Schulgleiters "SG38" festschnallte, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Noch ein Klaps auf den Sturzhelm, dann trat er zur Seite und gab die Startkommandos. Während drei meiner Kameraden die Absätze in den Boden stemmten und den Schwanz des Flugzeugs festhielten, begannen die anderen mit dem Ausziehen der Gummiseile, die an der Rumpfspitze befestigt waren. Bergab laufend, zogen sie nach Leibeskräften, bis die Seilspannung erreicht war, die zum Start nötig war. Auf das Kommando „Los" gab die Haltemannschaft die Maschine frei.

Der Traum endete als Schreck

Es war, als hätten sie mich förmlich in die Luft geschossen. Entsetzt stieß ich den Steuerknüppel nach vorne, doch jetzt stürzte die Erde auf mich zu. Also schnell den Knüppel nach hinten und wieder erschien der Himmel vor meinen Augen. Weniger als eine Minute dauerte dieser Berg- und Talflug, doch großzügig verzieh der gutmütige Schulgleiter alle meine Fehler. Er setzte sich schließlich wie von selbst wieder auf den Boden. Ich blieb im Flugzeug sitzen, bis meine Kameraden kamen. Erst allmählich begann ich zu begreifen, daß dies mein erster Flug gewesen war. Mein großer Traum hatte sich erfüllt.

Unsere Großmutter stirbt im Oktober 1943

Am 10. Oktober 1943 starb meine Großmutter an den Folgen einer Diabetes im Alter von 69 Jahren. Zum ersten Mal erlebte ich den Tod eines Menschen aus unmittelbarer Nähe. Meine Mutter führte uns weinend in das abgedunkelte Sterbezimmer. Überall brannten Kerzen, eine Ordensschwester betete leise vor sich hin. Ich berührte die kraftlose Hand meiner Oma und betrachtete mit Angst das schon vom Tod gezeichnete Gesicht. Ich begann zu begreifen, daß etwas Endgültiges, von keinem Menschen mehr Beeinflußbares, geschehen war. Ich fürchtete mich sehr.

Tausendfaches Sterben - Gesichter wie versteinert

Wie damals bei der Beerdigung meines Großvaters kamen wieder Hunderte von Trauergästen nach Villingen, um Johanna Schwer auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Viele von ihnen waren wie versteinert. Angesichts des tausendfachen Todes auf den Schlachtfeldern und in den zerbombten Städten lebten sie mit der Trauer wie mit einem täglichen Begleiter. Man hatte sich an sie gewöhnt.

Das Testament von Johanna Schwer

Johanna Schwers Testament legte meiner Mutter einschneidende Beschränkungen auf. Es war ihr untersagt, größere Schenkungen zu machen oder Grundstücke oder Geschäftsanteile ohne Zustimmung des Testamentsvollstreckers zu veräußern. Die Substanz des hinterlassenen Vermögens durfte nur insoweit angegriffen werden, als dies zu ihrem Lebensunterhalt und zur Ausbildung ihrer beiden zu den Nacherben bestimmten Söhnen erforderlich war.

Außerdem war es nicht die Aufgabe meiner Mutter, sondern die des Testamentvollstreckers, die Führung der Firmengeschäfte zu überwachen. Nur er war dazu befugt, die Rechte der Nacherben wahrzunehmen. Und nur er konnte uneingeschränkt Verbindlichkeiten für den Nachlaß eingehen.

Wirtschaftsprüfers Dr. Daniel Goebel, ein Freund der Familie

Damit lag das Schicksal der SABA-Werke wie auch das der Berliner Firma bis auf weiteres in den Händen des Wirtschaftsprüfers Dr. Daniel Goebel, einem langjährigen Freund und Berater der Familie. Allerdings, seine Einflußnahme auf geschäftspolitische Entscheidungen blieb in jener Zeit auf ein Minimum beschränkt. Denn nicht die Firmenleitungen bestimmten damals die Geschicke, es waren die Planer der Rüstungsbehörden, die über Produktionen, Preise, Umsatz, Gewinn oder Verlust entschieden.

1944 - Zeichen der Wende im Krieg zu sehen

1944 - Mittlerweise wurde es bei uns zu Hause eng. Die Villa meiner Großmutter diente inzwischen genauso als Obdach für Flüchtlinge wie unser Ferienhaus in Meersburg, das der Kreisleiter von Mannheim für seine Familie in Beschlag genommen hatte. Im Juli 1944 verbrachten wir noch einmal ein paar Ferientage am Bodensee, denn noch war das am Ufer gelegene kleine Badehaus nicht mit Flüchtlingen belegt. Ich saß am Abend oft auf der kleinen Ufermauer und bewunderte den Sonnenuntergang über dem wie mit Gold überzogenen See. Ein Schauspiel von unvergleichlicher Schönheit.

Ende der Schule - als „Fronthelfer" nach Frankreich

Sommer 1944 - Von einem geregelten Schulbetrieb war nach diesen Sommerferien 1944 keine Rede mehr. Die Luftschutzsirenen heulten jetzt auch bei Tag immer häufiger. Zum ersten Mal fielen Bomben auf das Villinger Bahnhofsviertel. Als schließlich die Hitlerjugend zum Kriegseinsatz mobilisiert wurde, bedeutet dies das vorläufige Ende meiner Schulzeit. Man schickte uns als „Fronthelfer" nach Frankreich.

„Goldfasane" nannte man die Parteifunktionäre bereits

In Uniform, den Tornister auf dem Rücken, versammelten wir uns auf dem Rathausplatz, faßten Marschverpflegung und warteten auf den Abmarsch zum Bahnhof. Es herrschte ein hektisches Durcheinander. Villingens Parteifunktionäre schienen mit der Organisation dieses im Schnellverfahren befohlenen Einsatzes völlig überfordert. Aufgeregt liefen sie hin und her und schrieen uns und sich gegenseitig an. Den meisten dieser „Goldfasane"- so nannte man die Oberen in den goldbraunen Uniformen - gefiel es offensichtlich gar nicht, uns in das von Partisanen wimmelnde Frankreich begleiten zu müssen. Da sie auch für unseren Schutz zu sorgen hatten, hängten sie sich Maschinenpistolen um. Der Angst in ihren Gesichtern tat das jedoch keinerlei Abbruch.

Halbwüchsige Kinder ziehen in den Krieg

Besorgte Mütter bevölkerten die Szene. Einige weinten, viele zeigten sich aufgebracht. Sie konnten es nicht fassen, daß jetzt auch ihre halbwüchsigen Kinder in den Krieg ziehen mußten. Endlich, nach vielstündiger Herumsteherei, marschierten wir gegen Abend in langen Kolonnen zum Bahnhof, von vielen Angehörigen und Neugierigen begleitet. Auf einem der Gleise stand ein ellenlanger Transportzug unter Dampf. Hinter der Lokomotive zwei mit Vierlingsgeschützen bewaffnete Flakwagen. Die Kanoniere betrachteten den Kinderaufmarsch mit unverhohlener Abneigung. Ihre Gesichter waren rußgeschwärzt, sie trugen Motorradbrillen, um zumindest ihre Augen vor dem Fahrtwind und den schmutzigen Dampfschwaden der Lok zu schützen.

Und wir hatten jetzt Angst

Ein Offizier trieb uns zur Eile an. Wir pferchten uns in die Waggons, kämpften um die besten Plätze. Es herrschte eine qualvolle Enge. Einige legten sich auf die Gepäcknetze, stiegen aber schnell wieder herunter, als jemand bemerkte, daß man so dicht unter dem Dach wohl als erster erwischt wird, falls der Zug von feindlichen Flugzeugen aufs Korn genommen würde. Tatsächlich standen die Chancen schlecht, diesem fahrenden Käfig bei einem Luftangriff noch rechtzeitig entkommen zu können. Wir konnten nur auf unser Glück und auf die beginnende Nacht hoffen. Angst hatten wir jedenfalls alle.

Flakwagen vorne und Flakwagen hinten - ein Zeichen

Die Reise wurde durch häufige Stopps unterbrochen. Sie dauerte die ganze Nacht. An Schlaf war nicht zu denken. Zu sehen gab es nichts. Die Wagenfenster mußten verdunkelt bleiben. Im Morgengrauen rumpelte der Zug über den Rhein. Endlich durften wir die Fenster öffnen. Der Mief in den Abteils war zum Schneiden. Als es um eine Kurve ging, sah ich am Zugende zwei weitere Flakwagen. Man hatte sie irgendwann in der Nacht noch angehängt. Die Gefahr eines Luftangriffs wuchs jetzt mit jedem Kilometer.

Ein ungewohnter Kontrast - auf einmal waren wir mitten im Krieg

Es war still geworden im Zug. Die Gespräche verstummten schließlich völlig, als wir langsam durch das gräßlich zerstörte Bahnhofsarreal von Belfort fuhren. Ein deprimierender Anblick: kaputte Gebäude, von Geschoßgarben durchsiebte Lokomotiven, ausgebrannte Waggons, in die Luft ragende Reste zerfetzter Gleise. Und überall Bautrupps. Sie waren fieberhaft damit beschäftigt, Bombentrichter aufzufüllen oder neue Gleise zu verlegen. Bis zum nächsten Bombardement: dann konnten sie wieder von vorn anfangen.

Die alten Soldaten gaben uns erste Tips

Gegen Mittag hielt der Transport im Bahnhof von Lachapelle, einer kleinen, nördlich von Belfort gelegenen Ortschaft. In aller Eile verließen wir den Zug. Es grenzte schon an ein Wunder, daß unterwegs nichts passiert war. „Haut bloß ab hier", rief einer der Flaksoldaten, „die Jabos werden bald hier sein, die Amis kommen immer um die selbe Zeit."

Wir formierten uns zu einer dreigliedrigen Kolonne und marschierten los. Das Marschziel hieß Chaux, ein drei Kilometer entferntes Bauerndorf.

Es wurde scheinbar wirklich ernst hier - also Krieg

Wir sollten gerade ein Lied singen, als wir von einem Kübelwagen gestoppt wurden. Heraus sprang ein verwegen aussehender Major, an seinem Kragen baumelte das Ritterkreuz. Wir erstarrten vor Ehrfurcht. Er brüllte nach dem für diesen „Sauhaufen" verantwortlichen Mann.

Der Bannführer baute sich vor dem Haudegen auf, die rechte Hand zum Hitlergruß erhoben und begann mit seiner Meldung. Doch damit kam er nicht weit. „Wissen Sie Arsch eigentlich, welcher Gefahr diese Knaben da ausgesetzt sind, wenn Sie sie in dieser Marschordnung durch die Gegend spazieren lassen ? Wohl noch nie was davon gehört, wie man sich bei latenter Fliegergefahr auf offener Straße bewegt, Sie Anfänger!" Der Bannführer stand da wie ein begossener Pudel, blamiert bis auf die Knochen.

Langsam fingen wir an zu begreifen, was Krieg wirklich ist

Auch der dümmste von uns begann allmählich zu begreifen, daß wir hier in eine Sache hineingeraten waren, die nichts, aber auch gar nichts mehr mit der Soldatenspielerei im heimatlichen Schwarzwald zu tun hatte. Wie zur Bestätigung dessen vibrierte plötzlich die Luft. Der giftige Lärm von Flugzeugmotoren kam immer näher. "Jabos", Jagdbomber, begannen über uns zu kreisen und stürzten sich dann auf den Bahnhof, auf dem wir uns noch kurz vorher versammelt hatten. Die Flak feuerte wie wahnsinnig, während wir wie von der Tarantel gestochen nach allen Seiten auseinanderstoben, um in Deckung zu gehen. Obwohl dieser Angriff gar nicht uns gegolten hatte, der Schock saß tief. Belämmert marschierten wir weiter, jetzt aber so, wie es sich gehörte, in Einerkolonnen am Straßenrand entlang.

Die Franzosen mochten uns nicht - verständlich

In Chaux bezogen wir in den Heuschobern von Bauern Quartier. Die Bevölkerung begegnete uns mit unverhohlener Abneigung. Nicht nur, weil wir Deutsche waren; daß hier noch Stellungen gebaut wurden, gefiel ihnen überhaupt nicht. Krieg hatte man hier schon zur Genüge am eigenen Leib erlebt. Wir entdeckten alte Gebäuderuinen, die an die Kämpfe vor 30 Jahren erinnerten.

Appell auf dem Dorfplatz. Wir faßten Spaten, Pickel und Schaufeln. Ein älterer, mit den Orden des Ersten Weltkriegs dekorierter Offizier, begrüßte uns mit knarrender Stimme. Es sei für ihn ein bewegender Augenblick, sagte er, angesichts einer immer desolater werdender Truppenmoral junge Deutsche auf dem Vormarsch und nicht, wie in diesen Tagen üblich, auf dem Rückzug zu erleben. Dies erfülle ihn mit großer Hoffnung. Ich traute meinen Ohren nicht. Glaubte dieser Herr im Ernst an eine Wende des Kriegsverlaufs durch den bloßen Anblick vor ihm strammstehender, mit primitivem Schanzzeug bewaffneter Hitlerjungen? Oder wollte uns der Spinner ganz einfach nur verarschen?

Eine neue Verteidigungslinie mit Panzergräben

Endlich erhielten wir Anweisungen für die Arbeit an den Schanzen. Hier am Westrand der Vogesen sollte eine neue Verteidigungslinie entstehen, um den Vormarsch der Westalliierten zumindest in diesem Abschnitt zum Stillstand zu bringen. Vom Bau eines Panzergrabens versprach man sich offenbar besonders viel. In diesem 5 Meter breiten und etwa 3 Meter tiefen Graben würden sich die feindlichen Panzer festfahren, steckenbleiben wie in einer Mausefalle. Und diesen Graben auszuheben, zusammen mit Tausenden überall hergeholter Fronthelfern, war unsere Aufgabe. Das alles natürlich so schnell wie möglich und mit dem letzten Einsatz aller Kräfte.

Harte Knochenarbeit erwartete uns. Schon in aller Herrgottsfrühe mußten wir raus, rüber an den Rand eines nahegelegenen Waldes. Dort begannen wir zu graben. Ein ungewohntes, vor allem aber anstrengendes Geschäft. Schon nach wenigen Stunden bildeten sich Blasen an den Handflächen, die bald darauf platzten und bei jedem Spatenstich höllisch weh taten.

So abrupt mit der Wirklichkeit konfrontiert

Wir ackerten bis zu zehn Stunden am Tag, bei jedem Wetter und dürftiger Verpflegung. Abends fielen wir ungewaschenen voller Montur ins Heu und schliefen wie die Toten. Manchmal besuchten uns die ,Jabos", dann flogen sie ganz tief die Baustelle an und ballerten durch die Gegend, während wir uns hinter den Bäumen verkrochen. Tiefer in den Wald zu flüchten war verboten. Dort seien noch immer Minen aus dem Ersten Weltkrieg vergraben.

Die Front kam immer näher - und wir wurden beschimpft

In der zweiten Einsatzwoche verstärkte sich die Fliegertätigkeit. In das Hämmern der Bordwaffen und das dumpfe Geräusch entfernt fallender Bomben mischte sich allmählich auch Geschützlärm. Die Front kam näher. Nachts zogen Militärkolonnen durch das Dorf. Die Landser sahen erschöpft aus, abgerissen, niedergeschlagen, deprimiert. Die Szenerie hatte so gar nichts mit den sattsam bekannten Heldenbildern der Kriegswochenschau gemeinsam. Was wir hier sahen, war eine geschlagene, in Auflösung befindliche Truppe. Ich begann zu begreifen, daß dieser Krieg nur noch verloren werden konnte. Die Sprüche von der bevorstehenden Wende, vom Endsieg - alles Lügen. Man hatte uns getäuscht und mißbraucht. Sinnlos die Schufterei am Panzergraben, so sinnlos wie unsere Anwesenheit in diesem feindseligen, auf die bevorstehende Befreiung wartenden Dorf. Das Verhalten der Franzosen änderte sich von Tag zu Tag. Sie begannen uns auf offener Straße zu beschimpfen, riefen „Hitler kaputt". Sie hatten keine Angst mehr vor den „Boches".

Und dann ging alles ganz ganz schnell

Dann eines Abends, wir kamen gerade von der Arbeit zurück, ging unser Gastspiel plötzlich zu Ende. Militärlastwagen fuhren vor, ihre Besatzungen bis an die Zähne bewaffnet. Dem Gegner war ein weiterer Durchbruch gelungen. Seine Panzerspitzen operierten bereits in unmittelbarer Nähe, man schien uns also noch in letzter Minute herauszuholen. Wir kramten unsere Habseligkeiten zusammen und machten, daß wir auf die Laster kamen. Und schon ging's los, die Burschen fuhren trotz verdunkelter Scheinwerfer wie die Henker. Wir wurden durchgeschüttelt, hin- und hergeworfen, schlugen uns die Köpfe an. Nach dreistündiger Fahrt ging die Tortur zu Ende. Der Transport hielt gegen Mitternacht, und wir kletterten wie gerädert von den Pritschen.

Zunächst wußten wir nicht, wo wir waren. Es war stockdunkel und regnete in Strömen. Erst ein neugieriger Passant klärte uns auf: Wir standen auf dem Marktplatz der elsässischen Stadt Altkirch. Doch offenbar schien hier niemand mit der Ankunft dieses Transportes gerechnet zu haben, geschweige denn zu wissen, was mit dieser durchnäßten Fronthelfertruppe überhaupt zu geschehen hatte. „Sucht Schutz unter den Hausdächern", hieß es schließlich. „Weitere Befehle nicht vor morgen früh."

Unglaublich - ein Freund im Feindesland ??

Ich wickelte mich in eine Zeltplane ein und setzte mich neben eine Haustür. Ich fror erbärmlich, klapperte mit den Zähnen und bekam einen Schüttelfrost nach dem andern. Plötzlich leuchtete mir eine Taschenlampe ins Gesicht. Sie gehörte einem älteren, in einen Schlafrock gekleideten Herrn, der mich entgeistert ansah. Er war durch den Lärm der Lastwagen aufgeweckt worden.

„Komm rein in die Wärme, Bub", sagte er auf elsässerdeutsch und zog mich in die Höhe. Die Frau des barmherzigen Herrn hatte sich einen Morgenmantel umgehängt. Als sie mich sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Die Frau führte mich gleich in eine kleine Kammer. Sie suchte in einem Schrank herum, bis sie einen Trainingsanzug hervorzog. „Zieh diese Kleider aus, Du holst Dir ja noch den Tod." In der altmodisch eingerichteten, aber gemütlichen Stube durfte ich mich auf das Sofa setzen. Der Hausherr, ein Lehrer, zündete sich eine Tabakspfeife an und begann mich auszufragen.

Eine Nacht richtig geschlafen

Wenig später stand eine große Tasse Kaffee vor mir, schwarz, aber mit viel Zucker und einem gehörigen Schuß Kirschwasser. „Das ist immer noch die beste Medizin", sagte der Lehrer und schmunzelte. Er trank seinen Schnaps allerdings pur. Das Getränk brannte wie Feuer in meinem Hals. Was weiter geschah, weiß ich nicht mehr. Ich mußte von einer Sekunde auf die andere regelrecht k.o. gegangen und in einen tiefen Schlaf gefallen sein.

Als ich aufwachte, lag ich auf dem Sofa. Sie hatten mich in eine warme Decke eingepackt und schlafen lassen. Die Lehrersfrau stand vor mir, meine halbwegs getrocknete HJ-Uniform über dem Arm. Sie hatte sie ausgebürstet und eine abgerissene Achselklappe wieder angenäht.

„Du mußt los, da draußen tut sich was, Deine Kameraden treten gerade an." Hastig zog ich mich an und bedankte mich bei meinen Gastgebern, so gut ich es nur konnte. Ich war den Tränen nahe. Zwei Wildfremde aus dem schon sehr bald wieder zu Frankreich gehörenden Elsaß halfen einem Hitlerjungen aus seiner Not, schenkten ihm Fürsorge und ein paar Stunden Geborgenheit. Ich habe noch oft an sie gedacht.

Ein Erlebnis mit frustrierten deutschen Soldaten

Jetzt hofften natürlich alle auf einen Rücktransport in die Heimat. Doch daraus wurde nichts. Sie fuhren uns in ein ganz in der Nähe der elsässisch-schweizerischen Grenze gelegenes Kaff namens Winkel. In diesem Ort hatte sich eine Handvoll Soldaten einquartiert, typische Drückeberger, mit irgendwelchen Etappendiensten beauftragt. Als wir in Winkel einzogen, hängten sie ihre Köpfe aus den Fenstern. Sie feixten und grölten, stinkbesoffen. Zwei von ihnen kotzten um die Wette, das Erbrochene lief als widerliche Brühe die Hauswand hinab.

und ein Weiteres mit ganz kleinen gefräzigen 6-Beinern

Meine Gruppe kampierte in einem kleinen halbverfallenen Gebäude. Die „Betten" bestanden aus altem, übelriechenden Stroh. Schon in der ersten Nacht überfiel uns ein Heer von Läusen und Flöhen. Es gab nichts, womit wir uns gegen diese Plagegeister hätten wehren können. Da selbst dieses abgelegene Gebiet noch verteidigt werden sollte, mußten wir Schützengräben ausheben. Doch wer sollte hier noch in Stellung gehen, die versoffenen Landser aus dem Dorf etwa? Wenigstens ließen uns die Tiefflieger hier in Ruhe.

Ein Blick ins neutrale Traumland Schweiz

Fast jeden Abend spazierte ich hinüber zur Grenzstation. Die Schweizer hatten den Übergang mit Spanischen Reitern verbarrikatiert, dahinter hielten ihre Soldaten Wache und beobachteten ihre deutschen Kollegen durch Ferngläser. Die rote Fahne mit dem weißen Kreuz flatterte im Wind als Symbol eines Landes, das schon seit Jahrhunderten in Frieden lebte.

Von den "siegreichen" 6-Beinern nachhaltig gezeichnet

Nachdem die Stellungen fertiggestellt waren, schickte man uns endlich wieder nach Hause. Am Villinger Bahnhof warteten viele Menschen. Die Freude war groß. Alle kamen ohne Blessuren zurück. Wir hatten Glück gehabt. Noch am selben Tag mußte ich zum Arzt. Unzählige Floh- und Läusebisse verursachten einen eitrigen Ausschlag, an dem ich noch wochenlang herumlaborieren sollte. Den Weg zur Schule konnte ich mir ersparen. Das Gymnasium diente jetzt als Lazarett für verwundete Soldaten. Seine Schüler wurden dienstverpflichtet und mußten ab sofort zur Arbeit in die Fabriken.

Schüler waren dienstverpflichtet zur Arbeit in den Fabriken

Ich hatte es gut, denn ich durfte mein Pensum in den SABA-Werken ableisten und wurde dort als einer der beiden Erbprinzen natürlich mit Glacehandschuhen angefaßt. Man gab mir leichte Arbeiten und drückte auch ein Auge zu, wenn ich manchmal nicht pünktlich war.

Wehrertüchtigung für 16-jährige

Unterbrochen allerdings wurde dieser angenehme Job bisweilen durch die Abkommandierung in ein Wehrertüchtigungslager. Die Ausbildung erfolgte dort nicht durch die Hitlerjugend, sondern durch Unteroffiziere der Wehrmacht. Sie schliffen uns von morgens bis abends, jagten uns durchs Gelände und brachten uns den Umgang mit Karabinern, Maschinenpistolen und Handgranaten bei. Wozu wir das Kriegshandwerk noch lernen sollten, lag auf der Hand: Hitlers Volkssturmerlaß, also die Erfassung aller wehrfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren, war inzwischen ja jedem zur Genüge bekannt.

Endlich - aufatmen - Josef Fricker wird entlassen

Im Hause SABA hatte sich mittlerweile, 1944, ein Führungswechsel vollzogen. Josef Fricker, der bisherige Chef, hatte sich mit der Partei angelegt. Er ließ in der Fabrik ein ziemlich rüde abgefaßtes Schreiben verteilen, mit dem er gegen die Belegung des SABA-Erholungsheims in Meersburg durch Flüchtlinge protestierte. Er bezeichnete die Beschlagnahme als eine unsoziale, gegen die Interessen der SABA-Gefolgschaft gerichtete Willkür. Die Parteileitung reagierte prompt. Sie enthob Fricker seines Amtes und verbot ihm das Betreten der Fabrik.

Ein böses Intrigenspiel eines gedemütigten Fricker

Meine Mutter packte die Gelegenheit beim Schopf. Sie forderte ihren noch immer irgendwo in Frankreich stationierten Mann als Ersatz für den davongejagten Betriebsführer an. Und tatsächlich, ihr Wunsch wurde erfüllt. Trotzdem hielt das Familienglück nicht lange. Fricker, der Ernst Scherb schon immer mit eifersüchtigem Mißtrauen begegnet war, konnte es nicht überwinden, daß jetzt ausgerechnet dieser Mann auf seinem Stuhl saß. So begann er seine Fäden zu spinnen, und die reichten bis nach Berlin. Zu Hilfe kam ihm die Bekanntschaft mit Otto Saur, seines Zeichens Amtschef im Reichsrüstungsministerium. Fricker redete diesem Herrn ein, daß die Ernennung meines Stiefvaters zum Betriebsführer der SABA-Werke eine Fehlentscheidung sei. Scherb hätte von der Materie keine Ahnung und wäre außerstande, den geforderten Ausstoß an Kriegsmaterial sicherzustellen. Saur ging dem Intriganten auf den Leim. Er orderte einer seiner Mitarbeiter nach Villingen und ernannte ihn zum kommissarischen Leiter des Betriebs. Ernst Scherb aber zog wieder in den Krieg.

Der „Bahnhofsdienst" der Hitlerjugend

Einmal pro Woche mußte ich mir die Nacht um die Ohren schlagen, beim sogenannten „Bahnhofsdienst" der Hitlerjugend. Es kam immer häufiger vor, daß Flüchtlinge oder Ausgebombte auf ihrer Reise nach einem Zufluchtsort nicht mehr weiter kamen. Fast jede Nacht das gleiche Bild: Frauen mit ihren Kindern, alte Leute, den kärglichen Rest der geretteten Habe in Koffern und Pappkartons verpackt. Sie saßen auf den Bänken des Wartesaals, einige schliefen, andere starrten vor sich hin. Um sie hatten wir uns zu kümmern. Wir mußten sie in provisorische Unterkünfte bringen oder den Helfern vom Roten Kreuz übergeben. Wir wußten nicht recht, wie wir mit diesen Menschen umgehen sollten, mit ihrer Apathie und Hoffnungslosigkeit. Wir waren froh, wenn eine solche Nacht vorüber war und fürchteten uns vor der nächsten.

Weihnachten 1944 - man ging wieder in die Kirche

1944- Weihnachten - Wohl nie zuvor war die Sehnsucht nach Frieden größer als in der Weihnachtszeit des Jahres 1944. Viele, die über Jahre keinen Gottesdienst besucht hatten, fanden den Weg zurück in die Kirchen und baten den Herrgott um ein baldiges Ende des Krieges, was immer danach auch geschehen mochte.

Meine Mutter schmückte das Haus so weihnachtlich und liebevoll wie eh und je. Am Heiligen Abend lud sie die bei uns untergebrachten Flüchtlinge ein, hatte für jeden ein Geschenk und ein tröstendes Wort. Und doch, auch sie wirkte sehr bedrückt.

Blindwütiger Fanatismus sogar in der Familie

Spät am Abend zeigte sie mir den Brief eines Schwagers. Er könne es nicht verstehen, so war zu lesen, daß wir in dieser für das Vaterland so schicksalsschweren Zeit noch immer der Geburt Jesu, des Königs der Juden, gedenken würden. Er betrachtete dies als Verrat an der gemeinsamen Sache.

„Welch schrecklicher Haß, welch blindwütiger Fanatismus ist über uns gekommen", die Stimme meiner Mutter klang verzweifelt. „Wir haben das alles nicht nur geduldet, mit unserer naiven Gläubigkeit an Hitler haben wir dieser menschenverachtenden, unchristlichen Ideologie Vorschub geleistet." Es war das erste Mal, daß ich sie so sprechen hörte.

Februar 1945 - Der Ernst der Lage wird klar - täglich

22. Februar 1945 - Mit dem Beginn des Jahres 1945 kam der Bombenkrieg auch nach Villingen. Kaum ein Tag ohne Alarm. Zunächst hatten wir es nur mit Jagdbombern zu tun. Sie beschossen mit Vorliebe auf dem Bahnhof abgestellte Züge oder warfen Bomben auf die Gleise. Es gab zwar erste Opfer, doch die angerichteten Sachschäden hielten sich in Grenzen. Bis zum 22. Februar. An diesem Tag flog die alliierte Luftflotte wieder einen ihrer Großeinsätze auf das Schienen- und Eisenbahnnetz im süddeutschen Raum.

Eine "perfekte" Überraschung - wir sind das Ziel

Gegen Mittag heulten die Sirenen. Nur wenige Minuten später erschienen sie am Himmel, in großer Höhe, ein Bomberpulk nach dem anderen. Da sich die Flugzeuge auf Westkurs befanden, mußten sie auf dem Heimflug sein. So dachte ich und sah keinen Anlaß, meine Mittagspause im Schutzraum zu verbringen. Ich setzte mich auf eine Fensterbank. Der Anblick der herandröhnenden Bomberströme war wie immer faszinierend und furchterregend zugleich.

Plötzlich schwenkten etwa zehn dieser  "fliegenden Festungen" aus. Sie verloren an Höhe und kurvten auf die Stadt ein. Wie gelähmt starrte ich auf die aus den Rümpfen herausfallenden Bomben, Sekunden später ohrenbetäubende Detonationen. Eine dicke Wolke aus Rauch und Staub legte sich über die Stadt. Die Bombenschützen zielten nicht genau genug. Die Mehrzahl ihrer Bomben fielen nicht auf die Bahnhofsanlagen, sondern zerstörten ein benachbartes Wohnviertel.

SABA jetzt auch in Bedrängis

Die systematisch betriebene Zerstörung des deutschen Eisenbahnnetzes brachte in den letzten Kriegsmonaten auch die SABA-Werke in arge Bedrängnis. Die Produktionsstillstände häuften sich. Immer öfter gingen Rohstoffe oder Bauteile auf dem Transport nach Villingen verloren. Ersatz zu beschaffen, war kaum noch zu machen, nicht selten unmöglich. Bei jedem Fliegeralarm mußte die Belegschaft in die Schutzräume, und das so schnell wie möglich.

Unsere Alibi-Flaksoldaten

Mit dem Herannahen der Front geriet auch die Alarmierung unter Druck: Rechtzeitig vor einem Luftangriff zu warnen, war ein Lotteriespiel. Oft donnerten die schnellen, in niedriger Höhe anfliegenden Jagdbomber über die Stadt, ohne daß zuvor noch Luftalarm gegeben werden konnte. Auf den Dächern der mit grün-grauer Tarnfarbe angestrichenen Fabrikgebäude saßen zwar Flaksoldaten mit ein paar Maschinengewehren, doch schützen konnten sie damit weder die Fabrik noch sich selbst.

Von nun an wurde Nachts gearbeitet

Um ungestörter, vor allem aber gefahrloser weitermachen zu können, wurde eine Verlegung der Arbeitszeit in die Nachtstunden angeordnet. Beginn um 17 Uhr. Bis ein Uhr früh mußte dann ohne Pause durchgearbeitet werden. Mich selbst betraf die Nachtarbeit kaum mehr.
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März 1945 - Ich mußte "einrücken"

Anfang März flatterte der schriftliche Befehl ins Haus, mich unverzüglich in das Reichsausbildungslager auf den Fliegerhorst Ersingen bei Ulm zu begeben. Meine Mutter half mir beim Packen. Sie war in Tränen aufgelöst.

Und hier knüpft die Geschichte irgendwo an

Irgendwie ist die Reihenfolge nicht mehr logisch ..... ?????

Eine Nachtfahrt im LKW

Jemand rüttelt mich am Arm. „Aufwachen, Endstation, jetzt mußt Du sehen, wie Du alleine weiterkommst." Der Fahrer des Lastwagens zieht den Zündschlüssel ab, öffnet die Türe und steigt aus. Ich habe den letzten Teil der nächtlichen Fahrt verschlafen. Wir stehen auf einem Fabrikhof, so weit ich das in der Dunkelheit erkennen kann. Am Fabriktor eine Pförtnerloge. Ein schwacher Lichtschein dringt durch das Fenster. Wir treten ein, der Fahrer übergibt dem Nachtwächter irgendwelche Papiere. Sie reden eine Weile miteinander, drehen sich eine Zigarette, Marke Eigenbau, das Kraut stinkt erbärmlich.

Fast alle haben Angst vor dem neuen "Tag"

„So viel ich weiß, fährt noch der eine oder andere Zug, allerdings nur bei Nacht", meint der Nachtwächter schließlich. Er beschreibt mir den Weg zum Bahnhof, es sei nicht weit. Ich bedanke mich bei meinem so hilfsbereiten Fahrer, doch der winkt ab. „Mach Dich lieber auf die Socken, bevor es hell wird."

Von Tuttlingen nach Donaueschingen - gespenstisch

Bahnhof Tuttlingen, das gleiche Bild wie überall in diesen Tagen und Nächten, deprimierend. Auf Gepäckstücken sitzende, übermüdete Menschen, dazwischen Soldaten mit grauen Gesichtern, Weltuntergangsstimmung. Auf dem Bahnsteig steht ein Personenzug, die Wagen überfüllt. Auf einer Plattform erkenne ich ein paar Landser, gekleidet in Tarnanzüge, die Maschinenpistolen lässig um die Schulter gehängt. Alles erscheint irgendwie gespenstisch, unwirklich im diffusen Licht des Morgengrauens. Einer antwortet auf meine Frage nach dem Reiseziel: Donaueschingen! Ich zwänge mich dazwischen, bete darum, daß der Mann recht hat.

Die Morgendämmerung kommt

Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Die Lokomotive stößt gewaltige Rauchwolken aus, im Schneckentempo geht es vorwärts. Kann der nicht schneller fahren, noch eine halbe Stunde und es ist heller Tag! „Zu wenig Druck auf der Leitung", sagt einer, „Kohle gibts nur noch auf Marken, jetzt heizen sie die Kessel mit Holz".

Plötzlich ein Halt - ohne Grund ?

Kurz vor Donaueschingen kreischen die Bremsen. Der Zug kommt zum Stillstand, warum weiß ich nicht. Alles blickt gespannt zum Himmel, doch Flugzeugmotoren sind keine zu hören. Trotzdem, nichts wie weg von hier. Ich bin ja schon kurz vor dem Ziel, die Gegend hier kenne ich gut, den Rest schaffe ich auch zu Fuß. Der Sprung von der Plattform ist hoch und mißlingt. Ich kugele die Böschung hinunter. Die Landser lachen hinter mir her. „Der hat's aber eilig!"

Ich habe bereits Erfahrung mit den Jabos

Ich meide die Landstraße, gehe quer über Felder und Wiesen. Die Sonne scheint, es riecht nach Frühling, ein unbändiges Glücksgefühl überfällt mich plötzlich. Bald ist es geschafft, nur noch ein paar Stunden, und ich bin wieder zu Hause!
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Wieder Zuhause - Freitag, der 13. April 1945

Gegen Mittag tauchen die Türme meiner Heimatstadt vor mir auf. Im Hintergrund das Tannenmeer des Schwarzwaldes. Wenig später stehe ich vor unserem Haus, es ist unversehrt. Ich drücke auf den Klingelknopf am Gartentor. Die Haustüre öffnet sich, darunter meine Mutter, die Küchenschürze umgebunden. Sie sieht mich an, mit ungläubigem Blick, greift sich ans Herz, ringt um ihre Fassung, dann liege ich in ihren Armen. „Dem Herrgott sei Dank, mein Bub ist wieder da!" Es war Freitag, der 13. April 1945.

Ich hatte immer noch die Wunde an der Hand

Das erste heiße Bad nach vielen Wochen. Während ich in der Wanne lag und mit Kernseife und Bürste eine makaber aussehende Dreckschicht bearbeitete, nahm meine Mutter die Uniformfetzen an sich und verbrannte sie in der Heizung bis auf den letzen Rest. Dann kochte sie mir eine dicke Gemüsesuppe, zauberte Brot und richtige Butter auf den Tisch und begab sich ans Telefon. Im Villinger Lazarett tat ein Arzt Dienst, der meine Familie gut kannte.

Wenig später schon saß ich ihm gegenüber. Er versorgte meine Wunde an der Hand und hörte sich dann meine Geschichte an. Die von seinem Laupheimer Kollegen ausgefertigte Überweisung warf er in den Papierkorb. Erstens hätte er zuwenig Platz und zum andern würde man bereits damit beginnen, die transportfähigen Verwundeten zu evakuieren. Ich solle zu Hause bleiben und mich nicht in der Stadt sehen lassen. In ein paar Tagen sei sowieso alles vorbei.

Es gab nur noch Gerüchte - niemand wußte Genaues

Über die örtliche Kriegslage gab es so gut wie keine Nachrichten, dafür machten die widersprüchlichsten Gerüchte die Runde. Man wußte nur, daß es französische Divisionen waren, die, nachdem es ihnen gelungen war, den Rhein an mehreren Stellen zu überqueren, auf badischem Gebiet operierten und sowohl in den nördlichen wie in den südlichen Schwarzwald vorzudringen begannen. Ihre Verbände setzten sich aus marokkanischen und algerischen Kolonialtruppen zusammen sowie aus Einheiten, die sich aus Mitgliedern der französischen Widerstandsbewegung rekrutierten. Von einer zusammenhängenden Verteidigung konnte auf deutscher Seite keine Rede mehr sein.

Die letzten Kriegstage - Angst, überall Angst

In Villingen packte so mancher klammheimlich seinen Koffer und verschwand. Man fürchtete sich vor Repressalien und Übergriffen durch die rachelüsternen Franzosen. Eine Freiburger Arztfamilie, die seit der Bombardierung ihrer Stadt bei uns wohnte, zog ebenfalls weg. Meine Mutter dagegen dachte nicht an Flucht: „Ich lasse weder dieses Haus noch das Lebenswerk meines Vaters im Stich! Wenn man uns für das, was in unserem Namen geschehen ist, büßen läßt, so werden wir das mit Anstand und Würde tun."
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Mein Stiefvater - ein treuer loyaler Soldat

Wo und mit wem sich die Einheit meines Stiefvaters gerade herumschlug, wußten wir nicht. Um so überraschter waren wir, als er plötzlich mit einem feldgrau gestrichenen Personenwagen vorfuhr. Seine Truppe irrte irgendwo im Schwarzwald herum, hatte Probleme mit gepanzerten Fahrzeugen, denen das Motorenöl auszugehen drohte. Bei Triberg befand sich ein Depot für Betriebsstoffe. Dort wollte Oberleutnant Scherb sein Glück versuchen, und Villingen lag ja auf dem Weg.

Zumindest er zeigte keine Angst

In Triberg lebte eine Tante meiner Mutter. Sie war Witwe, ihr einziger Sohn flog als Beobachter bei der Luftwaffe. Wo er sich jetzt befand und ob er noch lebte, wußte man nicht. Meine Mutter bat ihren Mann, doch schnell bei der Tante vorbeizuschauen. Das könne man ja auch gemeinsam tun, meinte der noch immer forsch auftretende Offizier. Vor den Tieffliegern habe er auf der kurvenreichen Waldstraße keine Angst.

Es hat geklappt, jetzt suchen wir das Motoröl

Also stiegen wir zu ihm in den Wagen, meine Mutter und ich. So ganz wohl war es ihm anscheinend doch nicht, denn er fuhr wie ein Rennfahrer. Nach 20 halsbrecherischen Minuten standen wir vor dem kleinen Haus am Triberger Wasserfall. Tante Paula freute sich sehr. Meine Mutter blieb bei ihr, während mein Stiefvater und ich uns auf der Suche nach dem Öldepot machten. Es sollte sich am Rand der benachbarten Ortschaft Nußbach befinden.

Nicht aufpassen kann sehr gefährlich werden

Wir erreichten die ersten Häuser. Keine Menschenseele zu sehen. Warum, das bemerkten wir zu spät: Jagdbomber! Hinter einer Bergkuppe tauchten sie auf, vier Thunderballs, die wegen ihrer acht Maschinenkanonen besonders gefürchtet waren. Sie flogen hintereinander, in niedriger Höhe, die Talstraße entlang, auf der Suche nach einem Opfer. Und schon hatten sie unser Auto entdeckt. Die Jabos zogen hoch, flogen eine Steilkurve und stürzten auf uns zu. „Raus", schrie ich, „die greifen an!"

Zum Weglaufen war es zu spät. Ich hechtete in den Straßengraben und schon brach ein infernalisches Getöse los. In den Lärm aufheulender Motoren mischte sich das Hämmern der Bordwaffen, von den Berghängen reflektiert. Um mich hemm schlugen die Geschosse ein, es stank nach Ekrasit.

Keine dreißig Sekunden - und doch eine Ewigkeit

Der Angriff dauerte höchstens dreißig Sekunden, doch die kamen mir vor wie eine verdammte Ewigkeit. Ich hob den Kopf, sah die Flugzeuge, sie flogen eine Steilkurve. Es schien, als ob sie die Baumwipfel auf der gegenüberliegenden Seite berührten. Ich konnte die Piloten in ihren Kapseln erkennen. Das Auto stand noch da, so wie wir es verlasen hatten, von meinem Stiefvater keine Spur.

Die haben daneben geschossen, huschte es mir durch den Kopf. Und sie griffen noch einmal an. Ich hastete in den Wald, der neben der Straße lag. Ich rannte wie von Sinnen bergauf, warf mich hinter einen Baum, als die Schießerei von neuem begann. Wieder schlug es um mich ein, von sicherem Abstand keine Rede. Ich krallte mich im Boden fest, drückte mein Gesicht ins Moos, wollte schreien und brachte keinen Ton heraus. Als der dritte Angriff erfolgte, begann ich zu beten. „Lieber Gott, bitte mach, daß sie mich nicht treffen!"

Zum ersten Male hatte mein Stiefvater Angst - um mich!

Plötzlich schien alles vorbei zu sein. Die Flugzeuggeräusche entfernten sich. Jemand rief mit sich überschlagender Stimme meinen Namen. Ich lief auf die Straße zurück. Dort stand mein Stiefvater neben dem Auto. Er hatte während des Angriffs hinter einer Hauswand in Deckung gelegen. Die Straßendecke war von den Einschlägen aufgerissen, die Dächer naheliegender Häuser zerschossen, doch das Auto wies nicht den kleinsten Kratzer auf. Menschen liefen auf uns zu und schrien uns an: „Haut endlich ab mit eurer Scheißkarre, euch haben wir diesen Mist hier zu verdanken!"

Der Motor sprang sofort an und wir fuhren nach Triberg zurück. Mir schlotterten noch immer die Knie. „Bub, wenn dir etwas passiert wäre, ich hätte es nicht mehr gewagt, deiner Mutter unter die Augen zu treten." Auf der Uniformjacke meines Stiefvaters zeichneten sich dunkle Schweißflecken ab. Ich selbst hatte keinen trockenen Faden mehr am Leib. Nach Hause fuhren wir erst in der Nacht.

Eine Überraschung aus Berlin : Dr. Meyer-Oldenburg

Als wir ankamen, wartete ein Herr im Wohnzimmer, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Ein leitender Angestellter der Berliner Firma Scherb & Schwer namens Dr. Meyer-Oldenburg. Angesichts des Bombenterrors und der herannahenden Russen ließ die dortige Geschäftsleitung einen Teil der wichtigsten Produktionsanlagen demontieren und schickte sie per Bahn nach Villingen. „Dr. MO" hatte den Auftrag erhalten, diesen Transport zu begleiten, die Anlagen bei SABA zu installieren und die Fertigung wieder in Gang zu bringen.

Der Arme hatte eine wahre Odyssee hinter sich. Er war wochenlang unterwegs gewesen und hatte sich mit unglauglichen Schwierigkeiten herumschlagen müssen. Ein Teil der Fracht war unterwegs verlorengegangen. Was übrig blieb, lag jetzt auf einer Villinger Bahnhofsrampe. Der Doktor stand ziemlich ratlos da. Nach Berlin konnte er nicht mehr zurück, ohne die Russen um Erlaubnis zu fragen. Seine Familie befand sich in Oldenburg. Aber dort saßen schon die Engländer.

Meine Mutter fackelte nicht lange. Sie gab ihm eines der durch die Abreise der Arztfamilie freigewordenen Zimmer. „In ein paar Tagen wird man weitersehen", meinte sie, doch da irrte sie sich gründlich. Der gute „Dr. MO" sollte uns noch viele Monate erhalten bleiben.

Wir fahren fort mit der Familiengeschichte 4
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